Anatol Regnier:
Du auf deinem höchsten Dach

Tilly Wedekind und ihre Töchter. Eine Familienbiographie, München: Albrecht Knaus Verlag 2003, € 22,90

Cover

 

Rezension von Ines Rieder, Wien

Erschienen in Invertito 6 (2004)

Anatol Regnier, Enkel beziehungsweise Sohn der Schauspielerinnen Tilly und Pamela Wedekind, hat es geschafft, eine Familienbiographie zu schreiben, in der ich viele Geschichten las, die ich schon aus anderen Biographien und Autobiographien kannte, jedoch waren seine Perspektiven vielfach neu und angenehm überraschend. Eine Biographie über die Wedekinds wird wohl zuallererst von Leuten, die sich für Theater und Kultur begeistern, in die Hand genommen. Der 1918 verstorbene Dramatiker Frank Wedekind wird nach wie vor auf den Bühnen gespielt und ist vielen ein Begriff. Dass er eine schauspielernde Frau und Tochter hatte, dürfte schon eher in Vergessenheit geraten sein.

In Biographien aus dem Theatermilieu finden sich meistens recht viele Details über Aufführungen und Hinweise auf Kollegen und Kolleginnen, aber leider oft sehr wenig, das für lesbische und schwule Geschichtsschreibung von Interesse ist. Diese Biographie über Tilly Wedekind und ihre Töchter enthält auch einiges für diejenigen, die etwas über schwullesbische Geschichte in Erfahrung bringen wollen, immerhin gab es im großen Bekanntenkreis der Familie Wedekind viele bekannte homosexuelle Persönlichkeiten.

Frank Wedekind hatte 1906 die Schauspielerin Tilly Newes geheiratet und aus dieser Ehe stammten die beiden Töchter Pamela und Kadidja. Pamela Wedekind, die selbst eine Schauspielerinnenkarriere einschlug, war seit Mitte der zwanziger Jahre mit Erika und Klaus Mann, den beiden ältesten Kindern des Schriftstellers Thomas Mann und seiner Frau Katja, befreundet. Diesem Freundeskreis schloss sich auch die gleichaltrige Mopsa Sternheim an, Tochter des damals viel gespielten Dramatikers Carl Sternheim und seiner Frau Thea. Diese "Dichterkinder", wie sie in den Medien damals genannt wurden, blieben im Laufe der nächsten Jahrzehnte in Verbindung. Ihr Kontakt war bestimmt durch gemeinsame Freundschaften und Lieben, Reisen, Drogenkonsum und Arbeit; im Falle der Manns und Sternheims ebenfalls durch den Kampf gegen den Nationalsozialismus und das gemeinsame Exil.

Da ich vorwiegend neugierig war zu sehen, wie Anatol Regnier - der 1945 geborene Sohn von Pamela Wedekind und dem Schauspieler und Regisseur Charles Regnier - über diese Beziehungen schreibt, möchte ich diese hier auch näher betrachten. Auf die Karriere Tilly Wedekinds werde ich dagegen nicht weiter eingehen, ebenso nicht auf die Biographie von Kadidja Wedekind, Tillys jüngerer Tochter.

Oft sind Biographien, die von Familienangehörigen geschrieben werden, für meinen Geschmack zu einseitig und lassen vieles, was spannend wäre, beiseite: das Liebesleben und noch häufiger die homosexuellen Neigungen ihrer Angehörigen. Hinzu kommt im deutschsprachigen Raum die Tendenz, KünstlerInnen zu beweihräuchern und sich im Erzählen ihrer Leben in vornehmer Zurückhaltung zu üben. So erfuhr ich in im deutschen Sprachraum geschriebenen Biographien über die russische Dichterin Marina Zwetajewa kaum etwas über ihre Liebe zu Sophie Parnok, eine in den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts ebenfalls sehr bekannte Dichterin. Auch die pädophilen Abenteuer des französischen Literaturnobelpreisträgers André Gide werden nicht gerne erwähnt - falls es jedoch unumgänglich ist, diese anzusprechen, habe ich den Eindruck, dass es dem deutsch schreibenden Wissenschaftler unangenehm ist, dieses Thema zu behandeln. Wenn die Sprache auf die Dichterin Ingeborg Bachmann kommt, lese ich immer wieder, dass es nicht angebracht sei, in ihrer Dichtung nach Spuren ihrer eigenen - vor allem sexuellen - Erlebnissen zu suchen. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. In der anglo-amerikanischen Biographieschreibung ist es hingegen schon seit Jahren üblich, das Private mit dem Werk zu verknüpfen und in Einklang zu bringen. Ich denke da z.B. an Brenda Wineapples Genet, eine Biographie über Janet Flanner, oder die erst kürzlich erschienene Biographie Andrew Wilsons über Patricia Highsmith.

Deshalb war ich sehr angetan, dass Anatol Regnier es über 400 Seiten hinweg versteht, auch auf die privaten Hintergründe einzugehen, die das öffentliche Leben der Wedekinds bestimmten. Seinen Großvater mütterlicherseits, den Dramatiker Frank Wedekind, der im März 1918 verstorben war, kannte der 1945 geborene Anatol Regnier nur aus Erzählungen. Dennoch lässt er ein vielfältiges Bild Frank Wedekinds entstehen und hält sich auch nicht bei der Beschreibung dessen sexueller Phantasien und Erfahrungen, die auch homosexuelle Erlebnisse beinhalten, zurück. Regnier tut dies sehr umsichtig und glaubwürdig. Aus dem autobiographischen Fragment Tilly Wedekinds, seiner Großmutter mütterlicherseits, wählt Anatol Regnier auch jene Stellen aus, wo sie offen ihre kindlichen Liebesspiele mit der älteren Schwester beschreibt.

Für die schwullesbische Geschichtsschreibung ist jedoch besonders die Darstellung der Beziehungen der Mutter des Autors, Pamela Wedekind, interessant. Pamela Wedekind hatte sich 1924 - in der Zeit, in der Erika Mann heftig in sie verliebt war - mit Klaus Mann verlobt. Klaus Mann, der älteste Sohn Thomas Manns - nicht nur in schwulen Kreisen wohl der bekannteste "Mann" seiner Generation - schrieb in jungen Jahren Dramen, in denen er selbst sowie seine ältere Schwester Erika und seine Verlobte Pamela Wedekind, beide angehende Schauspielerinnen, auftraten. Die Bühnenbilder stammten von Mopsa Sternheim, die in den zwanziger Jahren und vor ihrer Emigration nach Frankreich im deutschsprachigen Raum eine Erfolg versprechende Karriere als Bühnenbildnerin begonnen hatte. Bei Besuchen im Elternhaus Sternheim lernte Pamela Mopsas Vater Carl Sternheim kennen. 1928, nach der Trennung von Carl und Thea Sternheim, zog Pamela zu Carl Sternheim. Dieser Einzug Pamelas bei Carl Sternheim wurde weder von Pamelas homosexuellem Verlobten Klaus Mann, noch von ihrer zu Frauen sowie zu Männern hingezogenen Freundin Mopsa Sternheim gebilligt.

Die Theateraufführungen der Dichterkinder und die Reaktionen der Presse und Öffentlichkeit wurden aus Klaus und Erika Manns Perspektive schon vielfach beschrieben, sei es in der Klaus-Mann-Schriftenreihe oder in dem von Uwe Naumann herausgegebenen Bildband Ruhe gibt es nicht, bis zum Schluss. Die Tagebuchaufzeichnungen Thea Sternheims, der zweiten Frau Carls und der Mutter Mopsas, sind weniger bekannt als die Biographien Klaus Manns, werfen allerdings Licht auf die Situation aus der sternheimschen Sicht. Anatol Regnier erzählt nun dieselben Ereignisse mit Hilfe der wedekindschen Aufzeichnung. Eine lesenswerte Ergänzung zu Klaus Manns Autobiographie Der Wendepunkt.

Sehr gefallen hat mir Anatol Regniers Darstellung der Beziehung zwischen Erika Mann und Pamela Wedekind. Erika Manns Biographin Irmela von der Lühe hatte in der 1994 erschienenen Lebensbeschreibung Erikas (Erika Mann. Eine Biographie, Frankfurt/New York 1994) nur von einer "engen, fast leidenschaftlichen Beziehung" gesprochen, während Anatol Regnier schreibt, dass Erika für Pamela eine "bedingungslose, eifersüchtige, erotische Leidenschaft" empfand und "in Pamela ihre große Liebe gefunden" (S. 187f.) hatte. Eine Liebe, die laut Anatol Regnier wenig Chancen hatte, da Pamela eben "nur bedingt homoerotisch" (S. 188) gewesen sei. Da von Pamela Wedekind keine späteren Frauenbeziehungen belegt sind, scheinen mir Anatol Regniers Interpretationen plausibel. Erika wandte sich dann anderen Frauen zu und hatte von den späten zwanziger bis Mitte der dreißiger Jahre eine Beziehung mit der Schauspielerin Therese Giehse.

Da keiner von Pamelas frühen Briefen an Erika erhalten geblieben ist, kann auf die Beziehung der beiden nur anhand von Erikas Briefen rückgeschlossen werden. Anatol Regnier bedauert zu Recht, dass es nicht möglich war, über den spekulativen Rahmen hinauszugehen. Belegt ist, dass Erika intensiv um Pamela geworben hat. Dies kommt in den Briefen zum Ausdruck. Dass Pamela Wedekind auf diese Werbung angesprochen hat, bestätigt Thea Sternheim. In ihren Tagebuchaufzeichnungen (Band 2 1925-1936) finden sich Hinweise auf das lesbische Auftreten der jungen Frauen: "Wie die drei Dichterkinder, Erika Mann, Pamela Wedekind und Thea Sternheim am Abend vor uns nach Romanshorn gehen, lache ich mit Karl über ihre betont lesbische(n) Allüren. Betont männliche Aufmachung. Pamela hantiert die Reitpeitsche. Man lacht dazu und doch hat man anderes erwartet!"

Die Vorfälle, die zuerst zu einem tiefen Einschnitt, dann gar zum Bruch, in den Beziehungen zwischen den Geschwistern Mann, Mopsa Sternheim und Pamela führten, werden detailliert geschildert. Der erste Schritt dahin passierte, als Erika und Klaus sich auf Weltreise begaben und Pamela sich mit Mopsas Vater Carl einließ. Nach seiner Scheidung von Thea heirateten Carl Sternheim und Pamela Wedekind im Frühjahr 1930. Die Boulevardpresse erfreute sich an der Darstellung dieser Ereignisse. Klaus Mann, der sich noch immer als Pamelas Verlobter betrachtete, sowie Mopsa, die nicht nachvollziehen konnte, warum ihre Freundin Pamela auf die Werbungen ihres Vaters eingegangen war, waren weniger begeistert.

Der große Bruch der "Dichterkinder" kam aber erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Während die Familien Sternheim und Mann Deutschland den Rücken kehrten und antifaschistische politische Positionen bezogen, blieben die Wedekinds in Deutschland und arrangierten sich mit dem NS-Regime. 1934 ließ sich Pamela von Sternheim, der in Brüssel im Exil lebte, scheiden. Die Schwierigkeiten im Umgang mit dem schwerkranken Carl Sternheim waren wohl der Hauptgrund für die Scheidung, dazu kam, dass es für Pamelas Karriere nicht förderlich gewesen wäre, weiterhin mit dem rassisch und politisch verfolgten Dramatiker verheiratet zu sein. Auch Erika Manns Einladung, bei der Pfeffermühle (ein von Erika Mann 1932 konzipiertes literarisches und politisches Kabarett, das in den ersten Jahren des europäischen Exils eine wichtige Rolle spielte) mitzumachen, folgte sie nicht. Stattdessen wurde sie nach Tilly Wedekinds Intervention bei Göringgattin Emmy Sonnemann am Preußischen Staatstheater engagiert. Dessen Intendant Gustaf Gründgens - seine Homosexualität sowie seine gemeinsame Theatervergangenheit mit den "Dichterkindern" waren dem NS-Regime bekannt - wollte die Jugendfreundin aus eigenen Stücken nicht anstellen.

1939 lernte Pamela Wedekind den Schauspieler Charles Regnier kennen. Sie erfuhr nach einiger Zeit, dass er neun Monate im KZ Lichtenburg in Torgau an der Elbe interniert gewesen war. Seine Homosexualität war der Grund der Verhaftung und Internierung gewesen. Er war, wie so viele andere, entlassen worden, nachdem er unterschrieben hatte, nichts von dem zu erzählen, was er gesehen hatte. Bei der Schilderung der Beziehung seiner Eltern verlässt sich Anatol Regnier auf seine Vermutungen und Interpretationen. Er meint, dass Charles Regnier wohl nicht der Typ Mann war, den Pamela Wedekind attraktiv gefunden hatte. Zum Zeitpunkt der Begegnung mit Pamela lebte Charles Regnier mit Kai Molvig, seinem Klavier spielenden und Ballett tanzenden Freund, zusammen.

Leider geht Anatol Regnier nicht darauf ein, ob sich sein Vater auch nach der Begegnung mit Pamela zu Männern hingezogen fühlte. Die Heirat im Juni 1940 brachte für Charles nicht nur den Vorteil, dem verdächtigen Ledigen-Status entkommen zu sein, sondern auch ein Engagement am Theater in München. Dass die Beziehung auch auf gegenseitiger Zuneigung basierte, ist anzunehmen, dennoch vermutet Anatol Regnier, dass seine Mutter anfänglich Angst hatte, Charles wieder an einen Mann zu verlieren. Diese Angst verlor sich mit der Zeit und Anatol Regnier berichtet nichts über spätere homosexuelle Beziehungen seines Vaters.

Während Irmela von der Lühe auf die Nachkriegsbeziehung von Erika und Pamela nur in einer Anmerkung eingeht, berichtet Anatol Regnier erfreulicherweise ausführlich darüber. Dass die beiden Frauen zu Zeiten des Nationalsozialismus so unterschiedliche Wege gegangen waren, führte immer wieder zu Auseinandersetzungen und Zerwürfnissen. Dennoch blieb der nach Klaus Manns Freitod 1949 wieder aufgenommene Kontakt zwischen Pamela Wedekind und Erika Mann bis zu Erikas Tod im Jahre 1969 bestehen.

Anatol Regnier war gerade acht Jahre alt, als er Erika Mann persönlich kennen lernte. Bis dato hatte er von seiner Mutter immer wieder gehört, dass Erika ihre liebste Freundin sei, und seine Neugier, sie kennen zu lernen, war dementsprechend groß. Diese Beschreibung der Nachkriegsbeziehung von Erika und Pamela war für mich eine der spannendsten Entdeckungen: Ich hatte auf Grund der bisherigen Quellenlage immer angenommen, dass es nur noch einen ganz oberflächlichen Kontakt gegeben hatte, erfuhr aber nun, dass es nicht nur eine Korrespondenz der beiden gab, sondern auch gegenseitige Besuche und immer wieder Konflikte - vorwiegend politischer Natur -, die zu langen Kontaktunterbrechungen führten. Doch sobald der Kontakt wieder hergestellt war, schreibt Pamela an Erika: "Jedenfalls war die höchste Auszeichnung, die mir im Leben zuteil wurde, Deine Freundschaft - sie ist nie durch nichts und niemanden ersetzt worden" (S. 385).

Für diejenigen, die an Erika und Klaus Mann interessiert sind, ist es sicherlich spannend, die vielschichtigen Beziehungen der Geschwister zu Pamela Wedekind aus einer neuen Perspektive kennen zu lernen. Darüber hinaus freut es mich, dass Anatol Regnier es gewagt hat, den Vorhang zu einem Stück deutscher Theatergeschichte zu heben, und dass diese Geschichte manche Details enthält, die andere lieber schnell in der Versenkung verschwinden lassen möchten.




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