Sabine Puhlfürst:
"Mehr als bloße Schwärmerei"

Die Darstellung von Liebesbeziehungen zwischen Mädchen/ jungen Frauen im Spiegel der deutschsprachigen Frauenliteratur des 20. Jahrhunderts, Essen: Verlag Die Blaue Eule 2002, 364 S., € 34

Rezension von Werner Altmann, Augsburg

Erschienen in Invertito 5 (2003)

Über lesbische Liebe und Literatur wird schon seit dem 19. Jahrhundert geforscht und geschrieben. Die Tatsache, dass die Mehrzahl der Arbeiten aus dem englischsprachigen Raum kommt, überrascht dabei weniger als der Umstand, dass in Deutschland trotz einer Fülle von einschlägigen literarischen Texten die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen nur wenige Publikationen hervorgebracht hat. Außer Aufsätzen (z.B. im wichtigen Forum. Homosexualität und Literatur oder im lexikon homosexuelle belletristik) und größtenteils unveröffentlichten Magisterarbeiten fehlte bislang eine eigenständige Monographie, die sich der Darstellung lesbischer Frauen in der deutschsprachigen Literatur widmete. Madeleine Martis Hinterlegte Botschaften. Die Darstellung lesbischer Frauen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945 ist zwar ein wichtiger Meilenstein der Erforschung lesbischer Literatur in Deutschland, beschränkt sich zeitlich aber auf die Bundesrepublik. In diesem Sinne schließt Sabine Puhlfürsts Dissertation eine weitere Lücke, da hier zum ersten Mal der Versuch gemacht wurde, das ganze 20. Jahrhundert ins Blickfeld zu nehmen.

Die Autorin untersucht den Wandel im Selbstbild lesbischer Mädchen und junger Frauen anhand ausgewählter Literaturbeispiele aus der deutschsprachigen Frauenliteratur von 1900 bis zur Gegenwart. Sie geht dabei streng chronologisch vor und teilt die Epoche in fünf Abschnitte ein: "Die Zeit bis 1933" (Kapitel 3), "Die Zeit des Nationalsozialismus" (Kapitel 4), "Die fünfziger und sechziger Jahre" (Kapitel 5), "Die siebziger Jahre" (Kapitel 6) und "Die achtziger und neunziger Jahre" (Kapitel 7). In jedem dieser Abschnitte werden exemplarisch Romane und längere Erzählungen (Lyrik und Theater werden nicht berücksichtigt) analysiert, egal ob es sich um so genannte "Trivial"literatur oder "hohe" Literatur handelt - eine Unterscheidung, die für diese Themenstellung in der Tat irrelevant ist.

Der besondere Vorzug der Arbeit liegt aber nicht nur darin, vielfach unbekannte Autorinnen und ihre Texte vor dem "Vergessen" bewahrt zu haben (was für den männlichen Rezensenten, der außer Christa Winslow, Christa Reinig und Mirjam Müntefering keine der mehr als zwei Dutzend behandelten Schriftstellerinnen kannte, schon einen außerordentlichen Gewinn bedeutet), sondern in dem interdisziplinären Ansatz, der sich nicht auf die literarische Analyse und Interpretation beschränkt, sondern Sexualwissenschaft und Gesellschaftsanalyse auf recht ausführliche Weise in die Untersuchung mit einbezieht. Jedem der fünf Abschnitte ist jeweils ein Kapitel über die in der Zeit vorherrschenden sexualwissenschaftlichen Theorien und Thesen sowie über lesbisches Leben und Kultur vorangestellt. Die Autorin entgeht somit der Gefahr, Literatur als ein von ideologischen und soziopolitischen Kontexten freies "Überbau"-Phänomen zu betrachten.

Die Ergebnisse der Untersuchung können folgendermaßen zusammengefasst werden:

(1) In der Pionierzeit der deutschen Sexualwissenschaft wird Lesbischsein zwar gelegentlich thematisiert, oft aber als bloßes Anhängsel eines primär auf männliche Homosexualität gerichteten Interesses (Richard von Kraft-Ebing), nicht frei von Vorurteilen (Magnus Hirschfeld) oder von einer "heterosexuellen" Sichtweise geprägt (Sigmund Freud) betrachtet. Erst nach der Zeit des Nationalsozialismus (in der keine eigenständigen Publikationen zu weiblicher Homosexualität gedruckt wurden) erschienen nach und nach Arbeiten von Frauen (Simone de Beauvoir, Charlotte Wolff) und Männern (Alfred C. Kinsey), die den Emanzipationsprozess lesbischer Frauen vorangetrieben haben. Festzuhalten, so Puhlfürsts Resümee, bleibt aber, "dass die spezielle Situation lesbischer Mädchen erst sehr, sehr spät Eingang in die Forschung gefunden hat ... und sogar von der Lesbenbewegung lange Zeit vernachlässigt wurde" (S. 320).

(2) Den "liberalen" Jahren der Weimarer Republik mit einer relativ lebendigen lesbischen "Subkultur" folgten Jahrzehnte der Unsichtbarkeit und des Versteckens (von den 30ern bis in die 70er Jahre). Erst danach erfolgte ein gesellschaftliches Coming-out, das die Autorin aber trotz aller sichtbaren Präsenz von Lesben in der Öffentlichkeit mit vorsichtiger Skepsis betrachtet. Sie stellt nach wie vor eine weithin verbreitete Pseudotoleranz, das Fehlen emotionaler Unterstützung für heranwachsende junge Lesben und nicht zuletzt ein Versagen der Schule fest und fordert mehr "Beratungsangebot" und "Aufklärung" für lesbische Mädchen. (

3) Hinsichtlich der lesbischen Thematik in der Literatur überwiegen die negativen Darstellungsformen lesbischer Liebe. Mit Ausnahme der "Goldenen Zwanziger", wo in den von der Autorin untersuchten Texten lesbische Gefühle als eher "natürlich" dargestellt werden und für sie um Verständnis geworben wird, wird Lesbischsein (teilweise bis in die 80er Jahre hinein) als krankhafte und sozial unverträgliche Veranlagung beschrieben und mit Unglücklichsein, Alkoholproblemen und Selbstmordabsichten in Verbindung gebracht. Erst im letzten Jahrzehnt wirken die Texte (auch in der Kinder- und Jugendliteratur) aufklärerisch und bieten positive Identifikationsmöglichkeiten an.




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