Pirmin Meier:
Der Fall Federer. Priester und Schriftsteller in der Stunde der Versuchung.

Eine erzählerische Recherche, Zürich: Ammann Verlag 2002, 389 S., € 24,90

Rezension von Herbert Potthoff, Köln

Erschienen in Invertito 5 (2003)

Man braucht Heinrich Federer (1866-1928) nicht zu lesen, man braucht ihn nicht mal zu kennen - auch wenn er zwischen 1910 und 1930 einer der Bestsellerautoren im deutschsprachigen Raum war. Ganz vergessen ist er nicht, allerdings bietet der Buchhandel gerade mal ein halbes Dutzend seiner zahlreichen Werke an. Seine Berg- und Heimatgeschichten ebenso wie seine autobiographischen Schriften sind realistisch und humorvoll und nicht ohne kritische Distanz zu der Anfang des letzten Jahrhunderts sich ausbreitenden Bergbegeisterung, für den heutigen Leser und die heutige Leserin sind sie aber offenbar zu erbaulich und legen vielleicht zu viel Gewicht auf religiöse Themen. Kurz gesagt, Federer ist nicht mehr "in", trotzdem erschien 2002 eine Biografie Federers, verfasst von Pirmin Meier, dem vielfach ausgezeichneten Autor biographischer Erzählungen zur Schweizer Geschichte (siehe die Rezension zu seiner Hössli-Degouttes-Doppelbiographie in Invertito 4). Spannend ist Meiers neue Arbeit aus zwei Gründen: erstens wegen der exakten Recherche und lebendigen Darstellung des "Falles Federer"; zweitens weil Federer und sein Werk ein Musterbeispiel dafür sind, was der Kieler Literaturwissenschaftler Heinrich Detering die "Produktivität eines Tabus" nennt (Heinrich Detering: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Göttingen: Wallstein Verlag 1994).

Der "Fall Federer": Im August 1902 wurde der katholische Priester und Publizist Heinrich Federer auf dem Bahnhof der Stanserhornbahn in Stans, Hauptort des Kantons Unterwalden, einem der Schweizer Urkantone, festgenommen. Den Haftbefehl hatte der Landammann, der Regierungschef Unterwaldens, unterzeichnet, er lautete auf "widernatürliche Befriedigung des Geschlechtstriebs mit einem Minderjährigen". Die Verhöre leitete der Polizeidirektor Unterwaldens. Der 12-jährige Knabe in Federers Begleitung wurde in die Privatwohnung des Bahndirektors gebracht. Dort nahmen der stellvertretende Regierungschef und der Alt-Landessäckelmeister als Gerichtsärzte eine Untersuchung und erste Befragung des Jungen vor.

Eine Haupt- und Staatsaktion, die in der katholischen Innerschweiz fast ohne Beispiel war. Die liberale Opposition der katholisch-konservativen Regierung hatte zwar schon öfter behauptet, dass Unterwalden seit altersher eine "Spielwiese für Päderasten" sei, konnte das aber nie belegen, da, wie die Antiklerikalen mutmaßten, die kirchentreuen Konservativen eine umfassende Vertuschungspolitik betrieben.

Der Fall Federer erregte in der ganzen Schweiz Aufsehen, insbesondere die Neue Zürcher Zeitung und andere liberale und antiklerikale Blätter taten sich bei der Berichterstattung hervor; sie sahen in der Bloßstellung eines führenden katholischen Priesters und Publizisten eine unerwartete politische Chance. Die Schweizer katholische Presse spielte die Vorgänge herunter, erwähnte zwar "unsittliche Handlungen" und "Päderastie", erklärte Federers Verhalten aber mit Geistesgestörtheit und erblicher Belastung. Die lokale Presse, selbst die liberale, verschwieg den Vorfall, offenbar wollte sie dem Ruf des Ländchens durch Berichte über einen Sittenskandal nicht schaden.

Als Federer verhaftet wurde, lebte er in Zürich, aus katholischer Sicht Diaspora, das heißt die große Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen Zürichs waren Protestanten. Federer hatte als Publizist und Vorkämpfer des Katholizismus einen Namen; man sah in ihm einen der geistigen Führer des Schweizer Katholizismus. Ein Schwerpunkt seiner seelsorgerischen Tätigkeit war die Jugendarbeit; dass er sich dabei vor allem um Jungen kümmerte, war bekannt, hatte aber noch keinen Verdacht erregt. Mit einem der von ihm betreuten Jungen, dem 12-jährigen Emil, und dessen Eltern verbrachte er in jenem August 1902 ein paar Tage in den Bergen; Federer und Emil wanderten und machten Ausflüge; die Eltern waren froh, sich ungestört erholen zu können. Bei einer dieser Exkursionen übernachteten Federer und Emil Brunner in einem Nachbarort, zusammen in einem Zimmer. Federer hatte darauf bestanden und damit beim Hotelpersonal Befremden erweckt. Federer als geistlichem Herrn schien man keine moralischen Vorhaltungen machen zu wollen; man ließ ihn aber nicht im Unklaren, dass es sich eigentlich nicht schickte, als Erwachsener mit einem nichtverwandten Jugendlichen in einem Zimmer zu übernachten.

Über die Nacht und den nächsten Morgen gibt es ausführliche schriftliche Rechtfertigungen Federers und Protokolle der Verhöre Federers, Emils und der Zeugen aus dem Hotel. Emil bestätigte dabei Federers Version im Wesentlichen. Die Nacht war kühl, Emil fror und gab keine Ruhe, bis Federer zu ihm ins Bett stieg. Nach Federer lagen sie nebeneinander und berührten sich nur zufällig; Emil will dabei Federers Glied gespürt haben. Außerdem kam es zu "Liebkosungen", die nach Federer von Emil ausgingen; er habe sie zurückgewiesen. Als der Junge schlief, zog sich Federer in sein eigenes Bett zurück. Dort hatte er, wie er zugab, einen Samenerguss. Gegen Morgen kroch Emil zu Federer ins Bett; für beide war die Nacht damit zu Ende. Sie spielten antike Schlachten und Szenen aus dem Burenkrieg nach, Federer meist in der Rolle des Unterlegenen oder Sklaven - charakteristisch für sein fast unterwürfiges Verhältnis zu dem von ihm verehrten Jungen. Der Lärm störte die Zimmernachbarn, der Hoteldirektor, der für Ruhe sorgen wollte, ertappte Federer und Emil im Nachtgewand, Emil auf dem Boden kniend, Federer über ihn gebeugt: Für den Hotelchef sah das aus wie "eine gehörige Schweinerei". Um dem Ruf des Hotels nicht zu schaden, ließ man die beiden abreisen, informierte aber die Polizei, die Federer, wie beschrieben, in Stans verhaftete.

Die folgenden Untersuchungen erbrachten wenig Konkretes. Letztlich konnten Federer zwar Liebkosungen und Küsse, aber, trotz eingehender ärztlicher Untersuchungen und stundenlanger Verhöre Emil Brunners, kein Anal- oder Oralverkehr nachgewiesen werden. Emil sagte ausdrücklich aus, dass er Federers und Federer Emils Glied nie entblößt gesehen habe; Federer habe nie versucht, in ihn einzudringen; er habe ihn auch nie "genässt". Federer gab zu, sich dem Jungen gegenüber "unklug" verhalten zu haben, bestritt aber in den Verhören und vor Gericht, den Jungen verführt oder missbraucht zu haben. Emil Brunner wurde auf Antrag des Anwalts seiner Familie vor Gericht nicht mehr befragt, "weil der Fall sich als weniger schwerwiegend" herausgestellt habe und um "weitere Schädigungen [...] durch Verhöre über diese heikle Sache" zu vermeiden.

Die Strafbestimmungen in Bezug auf sexuelle Vergehen oder Verbrechen waren damals in Unterwalden wenig konkret. Der Straf-Codex für die verschiedenen Arten und Fälle der Unzucht-Verbrechen von 1820 sah für "höhere, hier nicht verzeichnete Laster" eine "strenge Bestrafung" vor. Zu den betreffenden Unzucht-Verbrechen zählten z.B. gleichgeschlechtliche sexuelle Akte - ob auch homosexuelle Handlungen von Frauen bestraft wurden, lässt Meier offen. Daneben gab es das Gesetz über die Behandlung und Bestrafung außerehelicher Geburten von 1848, das für Unzuchtsvergehen, die nicht mit einer Schwängerung verbunden waren, Geldbußen oder Gefängnis bis zu neun Tagen vorsah. Nach diesem Gesetz, das auch einen Absatz über "sogenannte Vergehen wider die Natur" enthielt, wurde Federer wegen unsittlicher Handlungen, begangen an einem minderjährigen Knaben, zu 24 Tagen Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt; die Haft wurde mit den 24 Tagen Untersuchungshaft verrechnet. Federer ging in die Berufung, da er sich für unschuldig hielt. Die zweite Instanz verurteilte ihn aus Mangel an Beweisen "nur" noch wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses (da die Vorfälle im Zimmer Federers und Brunners andere Hotelgäste belästigt hätten) und reduzierte die Geldstrafe. Dass Federer nicht freigesprochen wurde, verlieh dem Urteil eine politische Dimension. Die Strafmilderung und ihre Begründung hatten allerdings mäßigenden Einfluss auf die publizistische und politische Diskussion. Der Anspruch der katholischen Kirche, Garant der öffentlichen Sittlichkeit zu sein, blieb in Frage gestellt.

Federer verließ das Gericht als freier Mann, die Wohnung in einem Wohnheim katholischer Nonnen wurde ihm jedoch gekündigt, er verlor seine Anstellung und durfte nie mehr als Priester amtieren; die katholische Presse zeigte sich an seinen Texten nicht mehr interessiert. Er stand vor dem Nichts. Es folgten Jahre in bedrückenden Verhältnissen, bis ihm 1909 mit der Novelle Vater und Sohn im Examen der literarische Durchbruch gelang: Er wurde in der Folge zu dem katholischen Schriftsteller seiner Generation, gefeiert als katholischer Kontrapunkt zu Gottfried Keller. Knaben und junge Männer spielten auch weiter eine Rolle in seinem Leben und in seinem literarischen Werk. Er suchte ihre Nähe und ihre Freundschaft, von körperlichen Annäherungen oder gar sexuellen Übergriffen wurde aber nichts mehr bekannt. Seine Sehnsüchte verarbeitete er literarisch, allerdings so gekonnt, dass weder Publikum noch Presse Anstoß daran nahmen. Federer starb hoch geehrt 1928. Eduard Korrodi, Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung, die 1902 eine der lautesten Stimmen bei der Kampagne gegen Federer war, würdigte Federers "unvergleichliche Verdienste um Schweizerdichtung und Schweizerkunst". Der Skandal von 1902 und die Jahre der Verfemung wurden zum Tabu. Aus einer Dissertation musste 1932 auf Gerichtsbeschluss die Aussage "Federer war homosexuell" gestrichen werden. Federers erster und lange Zeit maßgeblicher Biograph erklärte die Verhaftung 1902 mit der "gehässigen Anklage eines kirchen- und priesterfeindlichen Gasthofbesitzers". Sein Priesteramt musste Federer angeblich "wegen eines Asthmaleidens" niederlegen. Der erste, der es wagte, an das Tabu zu rühren, war 1966 Rolf alias Karl Meier in der Zeitschrift Der Kreis, damals die wichtigste Homosexuellenzeitschrift im deutschsprachigen Raum.

Pirmin Meiers "Fall Federer" zeichnet ein anschauliches und detailgenaues Porträt Federers und seines Umfeldes. Er betrieb umfangreiche Quellenstudien und wertete dazu nicht nur die erhaltenen Gerichtsakten aus, sondern auch die zeitgenössische Presse, außerdem zahlreiche weitere Quellen von bio- und autobiographischen Materialien über Hotelgästebücher und Zirkusprogramme bis hin zu Todesanzeigen. Meiers Darstellung ist im strengen Sinn nicht wissenschaftlich, sie erhebt als "erzählerische Recherche" allerdings auch nicht diesen Anspruch. Auch der Nachweis der literarischen Sublimierung von Federers Sehnsüchten und Obsessionen genügt (literatur-)wissenschaftlichen Ansprüchen nicht voll; Meiers Ausführungen dazu sind eher als Anstoß zu sehen für eine intensivere Untersuchung, ergänzen aber die Quellenauswertung zu einem schlüssigen Gesamtbild.

Die Ereignisse haben sich vor einem Jahrhundert zugetragen und sind doch hochaktuell, sowohl was das Problem pädophiler Priester betrifft wie auch die Reaktionen der katholischen Kirche und der Öffentlichkeit auf dieses Problem, vom Verschweigen bis hin zur Instrumentalisierung in der innerkirchlichen wie in der politischen Auseinandersetzung. Wenn man Kritik an Meiers Ausführungen üben will, kann man darauf hinweisen, dass er diese aktuellen Bezüge nicht herstellt. Man kann aber auch darauf verweisen, dass die Darstellung für sich spricht. Um zum Anfang zurückzukehren: Man braucht Heinrich Federer nicht zu lesen - Meiers Recherche zum Fall Federer dagegen ist unbedingt lesenswert.




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