Mark Lehmstedt:
Bücher für das "dritte Geschlecht".
Der Max Spohr Verlag in Leipzig

Verlagsgeschichte und Bibliographie (1881-1941), (= Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte, Bd. 14), in Kommission bei Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2002, 300 S., € 38

Rezension von Friedrich-H. Schregel, Köln

Erschienen in Invertito 5 (2003)

In einer Reihe zur Buch- und Verlagsgeschichte ist eine Monographie erschienen, die die bisher zum Thema bekannten Fakten sammelt, um viel Neues ergänzt, und so unsere Kenntnis von den Anfangszeiten der Organisation der Homosexuellen in Deutschland erweitert: Mark Lehmstedts Buch über den Max Spohr Verlag in Leipzig schildert die Biographie Max Spohrs und schreibt die Geschichte des Verlags, der nach dem Tode Spohrs 1905 im Familienbesitz noch eine Generation bis in die Nazizeit hinein bestand.

Der äußerst geringe Spielraum im politischen Leben führte unter Wilhelm II. dazu, dass sich in Kultur, Wissenschaft und Alltag mannigfaltige Reformbestrebungen entwickelten. Urbanisierung und Technisierung ließen nicht nur faktisch neue Probleme entstehen, sie führten auch geistig-kulturell zur Entwurzelung vieler Menschen. Die Lebensreform-Bewegung - ein späterer Sammelbegriff für all die Gruppen, Vereine und Bewegungen, die sich um 1900 um individuelle Umgestaltung des Lebens bemühten - war sowohl Reaktion auf den politischen Stillstand als auch Antwort auf die neu entstandenen Probleme. Sie fand vielerlei zukunftsfähige Lösungsvorschläge, besann sich dabei aber häufig auch auf Werte aus der Vergangenheit wie Wohnen und Arbeiten in überschaubaren Organisationsgrößen, naturnahe Ernährung und Freizeit, Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit. Die Lebensreform-Bewegung hatte in dem Verleger Max Spohr einen engagierten Helfer, er war neben Eugen Diederichs der rührigste Verleger für Schriften dieser Richtung. Das Sammelsurium von Themen, die die Bücher und Broschüren aus dem Spohr-Verlag behandelten, hatte hier seine verbindende Klammer - vegetarische Ernährung und Handlesekunst, Abschaffung des § 175 RStGB und Empfängnisverhütung, Belletristik und Theosophie. Bücher aus dem Verlag Spohr sind heute in Antiquariaten und Bibliotheken selten, die meisten Werke waren an Nutzbarkeit, an Aufklärung und praktischer Hilfe orientiert, sie gelangten deshalb selten in private Bücherschränke oder Bibliotheksbestände.

Die belletristischen Werke, die Spohr zahlreich verlegte, standen den Ideen der Reformbewegung nicht fern - neue Religiosität, Kritik der Geschlechtsrollen, Emanzipation der Geschlechter oder Befreiung der Sexualität waren einige der wiederholt aufgegriffenen Themen. Der Verlag Max Spohr beschäftigte sich auch, wie das WhK, verschiedentlich mit dem Thema des gleichgeschlechtlichen Begehrens von Frauen, sowohl belletristisch als auch wissenschaftlich (z.B. Emma Trosse: Ein Weib? 1897); diese Werke bildeten aber eine nur kleine Abteilung verglichen mit den Büchern zur männlichen Homosexualität.

Erste Studien über Max Spohr veröffentlichte Manfred Herzer, Günter Grau und Marita Keilson-Lauritz folgten. Die bisherige Forschung näherte sich aus dem Blickwinkel "der Verleger Hirschfelds" der Person und dem Wirken Spohrs. Lehmstedts Monographie erweitert diesen Blickwinkel entscheidend, das Werk ist geprägt von der Herkunft des Autors - dem Arbeitsgebiet Buch- und Verlagsgeschichte. Diese Sichtweise führt dazu, dass Hirschfeld- und WhK-Forscher eine Fülle ergänzenden Materials geliefert bekommen, dass Veröffentlichungen zur homosexuellen Emanzipation neben thematisch gänzlich fremden Büchern stehen, dass schließlich die Emanzipationsbewegung der Homosexuellen in ihre Zeit und in ein Umfeld anderer Reformbewegungen gestellt wird. Lehmstedt erklärt die Homosexuellen-Emanzipation nicht zum Bestandteil der Lebensreform, im Konglomerat der Spohr-Veröffentlichungen war die Bewegung gegen den §175 RStGB zunächst einmal eine Gruppierung unter vielen Protestbestrebungen. Lehmstedt nimmt indes durch den Umfang der Darstellung eine Gewichtung entsprechend dem Titel seiner Verlagsgeschichte vor, zwei Drittel des darstellenden Teils seiner Publikation gelten den Werken, die sich direkt oder indirekt mit Homosexualität beschäftigen.

Max Spohr verbarg seine Sympathie und sein besonderes Engagement für die Homosexuellen-Emanzipation nie und hob diesen Bereich seines verlegerischen Wirkens damit heraus. Lehmstedt schildert Spohrs Aktivitäten im WhK, belegt sein finanzielles Engagement, zeigt den Verlag als Anlaufstelle für Rat suchende Homosexuelle.

Die Geschichte des Verlegers und seines Verlages ist gründlichst recherchiert und vorbildlich erzählt - hier wird, ohne Verlust an Genauigkeit und Substanz, Geschichtsschreibung für ein breiteres Publikum praktiziert. Lehmstedt folgt zwar zunächst der Biographie des Verlegers und der Chronologie des Verlagsaufbaus, er differenziert aber in der Hauptwirkenszeit des Verlages nach Themengebieten. Damit werden die Einzelthemen tiefer durchdrungen, der Autor nimmt in kleinen Exkursen auch eine Einordnung wichtigerer Werke in das gesellschaftliche Leben und in die Fachwissenschaften vor. Auflagenzahlen, Zensurfälle, Veränderungen in Neuauflagen, auch Verlagsbilanzen werden berücksichtigt. Eine noch lebende Enkelin Spohrs berichtet, Familie und Unternehmen seien im Zweiten Weltkrieg zwei Mal ausgebombt worden, lediglich das Familienbuch der Spohrs habe gerettet werden können, sonstige Dokumente oder Memorabilia seien sämtlich vernichtet. An solche Grenzen stoßen die Forschungen ständig.

Buch- und Verlagsgeschichte tragen hier eine Menge bei zur Erforschung der frühen Homosexuellengeschichte. Es steht zu erwarten, dass auch seitens der Regional- bzw. Lokalgeschichte Leipzigs und weiterer Städte noch unbekannte Informationen zur Geschichte dieses Verlegers und / oder zur Frühgeschichte homosexueller Emanzipation beigesteuert werden können. Die Kooperation mit anderen Fachgebieten der Geschichte ist für die Sexualitätengeschichte bedeutsam, zu bewussterer Gewichtung und zur Gewinnung neuen Faktenmaterials.

Die Verlagsbibliographie nimmt eine knappe Hälfte des Buches ein, sie umfasst über 550 Titel. Das von Lehmstedt zusammengetragene Material gibt auch Auskunft über Nachauflagen und Druckereien, es werden in öffentlichen Bibliotheken noch vorhandene Exemplare verzeichnet und ebenso polizeiliche oder staatsanwaltliche Maßnahmen gegen Bücher aus dem Verlag. So wird das Buch für Forschungen mannigfaltiger Art zur hilfreichen Quelle. Dass bei der eingearbeiteten Faktenmenge einige wenige Details zu verbessern sind, ist unvermeidbar, Herzer hat in seiner Rezension (in Capri, Nr. 33, Dezember 2002, S. 45f.) bereits Einzelheiten richtig gestellt.

Lehmstedts Buch hat seine eigene Geschichte, leider weist kein Vorwort darauf hin: Die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (Berlin) hat den ersten Anstoß zu detaillierten Forschungen über Max Spohr gegeben, dass diese Forschungen eminent fruchtbar wurden, ist das Verdienst Lehmstedts. Der Völklinger Kreis, ein Verband schwuler Führungskräfte aus Wirtschaft und Verwaltung, taufte dann seinen Management-Preis "Max-Spohr-Preis" und äußerte Interesse an öffentlichkeitswirksamer Aufklärung über den Namensgeber. Spohr selbst hat ja, auch dies belegt Lehmstedt, bewiesen, dass Engagement und wirtschaftlicher Erfolg einander nicht ausschließen. Das Centrum Schwule Geschichte (Köln) erstellte in Zusammenarbeit mit der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft eine kleine Ausstellung, das Buch über den Verleger wurde zur ersten Preisverleihung (Frankfurt, 2001) nicht fertig. Gespräche mit dem Verlag rosa Winkel liefen über längere Zeit, führten zu einem tragfähigen Konzept, letztlich aber nicht zur einer Publikation. Danach entschloss der Autor sich zur Veröffentlichung in der von ihm mitbetreuten Reihe Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte. All dies ebenfalls ein Stück Verlagsgeschichte.




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