Angela Taeger:
Intime Machtverhältnisse.

Moralstrafrecht und administrative Kontrolle der Sexualität im ausgehenden Ancien Régime
(Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, Bd. 31), München: R. Oldenbourg Verlag 1999, 179 S., € 34,80

Rezension von Jakob Michelsen, Hamburg

Erschienen in Invertito 4 (2002)

Thema dieses Buches ist - was der Titel nicht klar erkennen lässt - der obrigkeitliche Umgang mit mannmännlichen sexuellen Handlungen im Paris des 18. Jahrhunderts. Angela Taeger baut auf den Arbeiten Michel Reys und Maurice Levers auf, während ihr die neueren Forschungen von Jeffrey Merrick entgangen zu sein scheinen. Im Gegensatz zu Rey und Lever beschäftigt sie sich jedoch weniger mit den Objekten der polizeilichen Tätigkeit, den Sodomitern, sondern mehr mit der Entwicklung und Struktur des Verfolgungsapparates. Ihre leitende Fragestellung ist die nach den Voraussetzungen und Ursachen der Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen unter Erwachsenen im Code pénal von 1791. Die bis dahin maßgeblichen Strafrechtsbestimmungen - das römische Recht und die regionalen Rechtssammlungen, die coutumes - sahen auch in Frankreich für das Delikt der Sodomie die Verbrennung vor, und die meisten Rechtsexperten hielten bis zur Revolution an dieser Auffassung fest. Hingegen wollten die Vordenker der Aufklärung wie Montesquieu oder Voltaire Moral und Strafrecht trennen und empfahlen aus diesem Grund auch die Entkriminalisierung der Sodomie, allerdings bei deren gleichzeitiger moralischer Ächtung. So könnte auf den ersten Blick die neue Rechtssetzung von 1791 als wahrhaft revolutionärer Sprung vom Mittelalter in die Neuzeit und als ein Triumph aufklärerischen Denkens erscheinen. Wie Taeger zeigt, ist die Sache jedoch komplizierter.

Tatsächlich gingen nämlich zwischen 1700 und 1789 in Paris nur ganze neun Verfahren den vorgesehenen Weg durch die Gerichtsinstanzen, von denen fünf mit Todesurteilen endeten. In fast allen dieser Fälle war Sodomie nur eines von mehreren angeklagten Delikten, daneben ging es beispielsweise um Raub oder Mord. Die einzige Ausnahme bildeten die beiden Arbeiter Bruno Lenoir und Jean Diot, die 1750 einzig wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen verbrannt wurden. Wie bereits zeitgenössische Beobachter bemerkten, fühlten sich die Gerichte hier offenbar bemüßigt, ein spektakuläres Exempel zu statuieren, und zwar nicht zufällig an zwei Delinquenten aus der Unterschicht.

Während die reguläre Justiz insgesamt kein großes Engagement für die wenig einträglichen Strafprozesse zeigte, gerieten die Pariser Sodomiter umso stärker ins Visier der Polizei, die in enger Verbindung zum Hof und in Konkurrenz zu den von den etablierten Magistraten beherrschten jurisdiktionellen Instanzen, besonders dem Parlement, stand. Der zweite der Pariser Polizeichefs, Marc René de Voyer d'Argenson, von 1697 bis 1718 im Amt, habe, so Taeger, in der Beobachtung der Sodomiter ein besonders geeignetes Feld der Profilierung entdeckt. Er stellte hierzu erstmals einen eigenen inspecteur an, der seinerseits eine ganze Schar von Spitzeln beschäftigte. Diese sammelten an bekannten Treffpunkten - Grünanlagen, Quais, Tavernen - Informationen über die Sodomiter, betätigten sich als agents provocateurs und sorgten gegebenenfalls für deren Festnahme. Tausende Männer wurden auf diese Weise im Laufe der Zeit aktenkundig - die meisten jedoch entweder sofort oder nach kurzer Haft wieder freigelassen. Bis Ende der 1720er Jahre mussten einige von ihnen noch für längere Zeit in die Gefängnisse Bastille und Bicêtre, danach wurde auch hierauf verzichtet. Nach Taegers Interpretation kam es d'Argenson und seinem Polizeiapparat weniger auf exemplarische Bestrafungen an als auf die Dokumentation eines Phänomens und damit auf die Demonstration der eigenen Unverzichtbarkeit im ständigen Machtkampf mit dem Parlement, auf dessen Kooperation die Polizei andererseits - etwa bei Festnahmen - immer wieder angewiesen war. Unter diesen Bedingungen konnte sich das Sodomie-département, das anfangs noch in einer rechtlichen Grauzone operiert hatte, bis zur Mitte des Jahrhunderts fest etablieren. Um 1780 schließlich hatten Polizei und Parlement ihre Claims abgesteckt und sich weitgehend miteinander arrangiert. Im Zusammenhang mit diesen Vorgängen sowie mit der Säkularisierung des Rechtsdenkens sei die Sodomie - ohne Zutun der philosophes - von einer Gott beleidigenden Sünde, die vom Erdboden vertilgt werden sollte, zu einem polizeilich zu kontrollierenden Verstoß gegen die öffentliche Ordnung mutiert.

Taeger ordnet diesen Vorgang unter Rekurs auf Gerhard Oestreich und Michel Foucault in die europaweiten Prozesse der absolutistischen Sozialdisziplinierung sowie der Etablierung der Bio-Macht ein, der es weniger um die Entscheidung über Leben und Tod geht als um die Verwaltung, Regulierung und "Bewirtschaftung" von Leben und die dafür systematisch Wissen sammelt. Diese Theorien liefern aber laut Taeger nur Teilerklärungen; letztlich entscheidend für die Entwicklung des obrigkeitlichen Umgangs mit mannmännlicher Sexualität in Frankreich sei die politische Konstellation gewesen: "Das Zusammenspiel von Zentralgewalt und Polizei, schließlich der Alleingang der Polizei unterhöhlen in Frankreich die traditionell-repressive Regulierung von Sexualität. Sie wird beiläufig eliminiert, denn keine der beiden involvierten Kräfte verfolgt im Grunde sexualpolitische Interessen. Es geht vielmehr um Macht, um den Zuwachs, den Erhalt und die Umgestaltung von Macht [...]" (146).

Die Stringenz der Argumentation ist bestechend, und ohne Zweifel hat die Autorin einen wichtigen Beitrag zur Analyse der Transformation des gesellschaftlichen Umgangs mit mannmännlichem Sex vorgelegt. Aufschlussreich und wesentlich genauer als die bisherigen Forschungen schildert sie die diesbezügliche Entwicklung der Pariser Repressions- und Kontrollinstanzen. Dennoch bleiben auch Fragen und Einwände. Am wenigsten überzeugt das Kapitel über die Auffassungen der Aufklärungsliteraten und -philosophen zum Thema Sodomie: Taeger schreibt ihnen pauschal eine Apologie des sexuellen Hedonismus - wenn auch meist inkonsequenterweise unter Ausklammerung der Sodomie - zu. Dies war aber lediglich das Programm der libertins, nicht das der Aufklärung schlechthin. Deren Mainstream propagierte vielmehr gemäßigte, durch die Vernunft gezügelte, so genannte "natürliche" Genüsse, was sinnliche Exzesse - zu denen gleichgeschlechtlicher Sex meist gerechnet wurde - ausschloss. Außerdem müsste hier zwischen geschlechtsspezifischen Konzepten unterschieden werden, denn die Freiheit, die die libertins meinten, war meist männlich definiert.

Zentraler für Taegers Argumentationsstrang ist aber, dass die genaue Genese des Entkriminalisierungsbeschlusses von 1791 unklar bleibt und vermutlich auch nicht mehr zu klären ist, denn in den Gremien der Assemblée nationale wurde über diesen Punkt nicht explizit diskutiert. Mir scheint es aber äußerst wahrscheinlich, dass deren Mitgliedern die Auffassungen Montesquieus, Beccarias und Voltaires zum Strafrecht mindestens so gut, wenn nicht besser bekannt waren als die nicht öffentlichen Polizeiberichte. Daher dürfte es etwas voreilig sein, die jahrzehntelang eingeschliffene Polizeipraxis als alleinige Ursache der Entkriminalisierung zu sehen und den Einfluss der philosophes vollständig zu negieren. Richtig ist es aber sicherlich, ihn erheblich zu relativieren und die Entkriminalisierung gleichgeschlechtlichen Verhaltens als Teil komplexer Zusammenhänge zu sehen, zu denen sowohl die Genese der Polizei als auch die intellektuellen Diskurse der Aufklärung gehören. Problematisch ist ferner, dass Taeger die Aufgabe der Polizei im späten 18. Jahrhundert in Bezug auf die "Päderasten" nur noch im Datensammeln sieht. Auch wenn keine Scheiterhaufen mehr brannten - auf polizeiliche Repression wurde damit nicht verzichtet. Die Verhaftungen und das damit wohl meist verbundene gesellschaftliche "Outing" dürften sich immer noch bedrückend genug auf viele Betroffene ausgewirkt haben, und zwar bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, nunmehr unter dem Vorzeichen "öffentlichen Ärgernisses".

Taegers Studie ist nicht zuletzt ein Beispiel dafür, dass globale, schematische Periodisierungen der Geschichte gleichgeschlechtlichen Verhaltens, wie sie etwa Randolph Trumbach oder Gert Hekma aufgestellt haben, fragwürdig sind, denn das Pariser Beispiel ist so auf kein anderes Land übertragbar, vermutlich nicht einmal auf die französische Provinz. Weitere Forschungen zu anderen Regionen Europas werden wahrscheinlich noch viele Ungleichzeitigkeiten und "Sonderentwicklungen" zum Vorschein bringen.

[1] Inverses. Litératures, Arts, Homosexualité, 1 (2001). Paris. Societé des Amis d' Axieros.




Zum Seitenanfang     Zur Übersicht von Invertito 4