Wolfram Setz (Hg.):
Die Geschichte der Homosexualitäten und die schwule Identität an der Jahrtausendwende.

Eine Vortragsreihe aus Anlaß des 175. Geburtstags von Karl Heinrich Ulrichs, Berlin: Verlag rosa Winkel 2000, 198 S., DM 19,80

Rezension von Michael Prescher, Köln

Erschienen in Invertito 3 (2001)

In München hatte Karl Heinrich Ulrichs am 29. August 1867 seinen großen Auftritt vor dem Deutschen Juristentag, als er "mit hoch klopfendem Busen die Stufen der Rednerbühne hinanstieg", um dort mutig für die Rechte der 'Urninge' einzutreten - nicht ganz zufällig also, dass im Jahr 2000, zu Ulrichs' 175. Geburtstag, eben in der Stadt des außergewöhnlichen Geschehens eine Vortragsreihe stattfand, die jetzt in Buchform publiziert wurde.

Die Zugänge der Autoren zu Ulrichs sind ganz unterschiedlich. Einige beschäftigen sich unmittelbar mit Person und Werk (Gert Hekma, Volkmar Sigusch, Dirck Linck und Michael Lombardi-Nash, letzterer mit einem thematisch eher randständigen Erfahrungsbericht über die Popularisierung der Werke Ulrichs' in den USA); andere spannen den großen historischen Bogen und weisen vor diesem Hintergrund Ulrichs einen Platz in der Epoche zu (Bernd-Ulrich Hergemöller und Jörg Hutter). Leitthema ist die Frage nach der Identität homosexuell orientierter Männer gestern und heute (allein zur aktuellen Situation der Beitrag Martin Danneckers): Ist die Zuschreibung 'anders als die anderen', von der Ulrichs ausging, immer noch gültig?

Die historische Begrenzung der Urningstheorie Ulrichs' steht allen Beiträgern klar vor Augen. Man ist sich darin einig, dass es die Homosexualität und den Homosexuellen, eben jenen überzeitlichen Wesenskern des 'Urningtums', den Ulrichs gesucht hat, nicht gibt. Geltend gemacht wird vielmehr eine "Geschichte der Homosexualitäten", wie es programmatisch im Untertitel des vorliegenden Bandes lautet. Die Relativierung der Position Ulrichs' bedeutet indes nicht, dass alle Autoren auf Distanz gehen. Je nach Perspektive gibt es sehr wohl auch Versuche der Annäherung, gar solche der Verbündung.

In Jörg Hutters Überblick über die homosexuelle Identitätsgeschichte firmiert Ulrichs als Vertreter eines überkommenen "geschlechtsrollenstrukturierten" Homosexuellenmodells. Gemeint ist die im 18. Jahrhundert einsetzende (Selbst-)Wahrnehmung der 'Homosexuellen' als Gruppe effeminierter, 'unmännlicher' Männer (als eigenes 'drittes' Geschlecht neben denjenigen von Mann und Frau). Erst um 1970, im Zeichen der neuen Schwulenbewegung, habe sich mit dem neuen Leitbild des maskulinen und partnerorientierten homosexuellen Mannes ein qualitativ verändertes Selbstverständnis - und Selbstbewusstsein - durchgesetzt. Inzwischen, nach den Entwicklungen der 1990er Jahre, hält Hutter auch dieses Modell, das den Homosexuellen weiter - in Treue zu Ulrichs - eine eigene Identität zuweist, für obsolet. Aufgrund der zunehmenden Anerkennung homosexuellen Verhaltens in der Gesellschaft, mit den vielen Möglichkeiten individueller Selbstverwirklichung, spielt laut Hutter heute die Homo-Hetero-Zuordnung für das Selbstverständnis der Menschen mit homosexueller Orientierung nurmehr eine geringe Rolle. Was Ulrichs einst auf den gemeinsamen Nenner bringen wollte, soll heute in der Vielfalt von "Queer-Identitäten" aufgelöst sein.

Auch bei Gert Hekma ist Ulrichs ein Mann von gestern. Gespiegelt an der Figur des sexuellen Libertins Marquis de Sade und dessen unmaskuliner gender position, erscheint Ulrichs' Konstruktion einer homosexuellen Identität als starre und verengende Festschreibung: ein sexualpolitischer Rückschritt. Hekmas Hauptkritik gilt allerdings nicht Ulrichs, sondern der "Inkonsequenz der Aufklärer", die trotz der von ihnen betriebenen Entkriminalisierung der Sodomie an der negativen Wertung der Homosexualität festgehalten und unter dem Programm 'Überwachen statt Strafe' staatlichen Repressionen den Weg bereitet hätten, kurz: Die halbherzigen Aufklärer grenzen diejenigen doch wieder aus, die Ulrichs mit seiner Theorie der Homosexualität in die Gesellschaft zurückholen möchte.

Eben darin, in der Fähigkeit zur unzeitgemäßen Gegenreaktion, erkennt Bernd-Ulrich Hergemöller die eigentliche Bedeutung Ulrichs'. Mit Blick auf die "zwei geistige(n) Lager der Homosexualitätskonstruktion" im 19. Jahrhundert hebt Hergemöller Ulrichs - wie auch Magnus Hirschfeld - als diejenigen Vertreter hervor, die mit der Idee eines dritten Geschlechts eine Rechtfertigung der Homosexualität wider den Zeitgeist zu formulieren verstanden - in Konkurrenz zu jenen Medizinern und Pathologen wie Carl Westphal und Richard von Krafft-Ebing, die die Homosexualität als behandlungsbedürftige Entwicklungsstörung begriffen haben. Hergemöller argumentiert dabei gegen Michel Foucault, dem er vorwirft, die bis ins Spätmittelalter zurückzuverfolgende Traditionslinie positiver 'homosexueller' Selbstvergewisserung komplett auszublenden, mitsamt der wichtigen Figur Ulrichs', dessen Werk Foucault gleichfalls ignoriert.

Volkmar Sigusch zollt Ulrichs am deutlichsten Respekt für sein Auftreten. Ulrichs' Lebenspraxis - und weniger seine sexualtheoretischen Aussagen - in den Mittelpunkt stellend, rühmt Sigusch "einen großartigen, selten mutigen Menschen mit einem unabstellbaren Gerechtigkeitssinn". Ulrichs sei "der erste, gewissermaßen historisch vorzeitige Schwule", der sich in einem repressiven gesellschaftlichen Umfeld "ohne Vorbild und ohne Umschweife als Sexualsubjekt bekannte" und für diesen Bekennermut alle Nachteile in Kauf nahm: den Verlust seiner guten Stellung als Jurist, die Verhaftung, den Landesverweis.

Mit der Sprache, genauer gesagt: Ulrichs' sprachlicher Zwiegesichtigkeit als schreibender Politiker und als Dichter, beschäftigt sich Dirck Linck. Am Beispiel lyrischer Äußerungen Ulrichs' stellt Linck dessen ausgesprochenen Sinn für den nicht-alltagssprachlichen Ausdruck heraus. Ulrichs schätzte die Individualität und Genauigkeit der dichterischen Sprache, war aber andererseits auch - angestrengt - bestrebt, solche persönlichen Töne zurückzuhalten, weil er - wohl zu Recht - vermutete, dass diese der Allgemeinverständlichkeit und politischen Wirksamkeit seiner Aussagen im Wege stehen könnten. Gewiss eine nicht uninteressante Entdeckung, die allerdings von Linck auf irritierende Weise funktionalisiert wird, nämlich im übergeordneten Vorhaben, "bei Gelegenheit von Karl Heinrich Ulrichs die Besonderheit literarischen Sprechens zu bedenken, das mit Zwecken, auch dem Zweck der Arbeit an der Emanzipation von Homosexuellen, nicht gut zu vereinbaren ist" (Hervorhebung von mir, M. P.). Getreu dieser Ankündigung gerät Lincks Beitrag über weite Strecken zu einem literaturtheoretischen Essay über die Besonderheit dichterischer Sprache, mit einer Serie von Grundsatzerklärungen zum (unpolitischen) Wesen der Dichtung. In der Rolle des Fallbeispiels wird Ulrichs dabei letztlich an den Rand gedrängt.

Der Grat zwischen produktiver Werkaneignung und interessengeleiteter Vereinnahmung ist schmal, das zeigt auch der Umgang mit Ulrichs' These von der Weiblichkeit des Homosexuellen. Linck etwa, dem das heutige Selbstverständnis der Schwulen "nach heterosexuellem Maß" ein Dorn im Auge ist, sucht einen Bündnispartner - und findet den historischen Ulrichs samt dessen Sinn für das "Faszinosum der homosexuellen 'Weiblichkeit'". Hat aber Ulrichs mit seinen Zuschreibungen tatsächlich ein unabweisbares Anderssein des Homosexuellen getroffen, das sich zu entdecken lohnt? Oder steckt hinter solchen Umarmungsversuchen nicht doch bloß die aktuelle gesellschaftspolitische Sehnsucht, den Homosexuellen eine besondere Stellung zuzuweisen bzw. zu erhalten? Volkmar Sigusch spricht mit Bezug auf die von Ulrichs dargestellte Weiblichkeit des Urnings gar von dem "modernen Springpunkt", der "Ulrichs' Anschauungen in die Gegenwart katapultiert". Starke Worte, die man gerne eindringlicher untermauert gesehen hätte als lediglich durch den Hinweis auf den von Martin Dannecker entdeckten 'Feminitätsschub' bei prähomosexuellen Jungen. Martin Dannecker selbst greift in seinem Beitrag das Thema homosexueller Feminität nicht explizit auf, steht aber auch so eindeutig im Lager derjenigen, die an der selbstständigen Figur des Homosexuellen festhalten. Dannecker verteidigt seinen - zusammen mit Reimut Reiche 1974 geprägten - Begriff des "gewöhnlichen Homosexuellen" als Chiffre der für ihn evidenten Spezifität und bestreitet die postmoderne Auffassung, dass die homosexuelle Orientierung heute losgelöst sei von "homosexueller Identität". Die aktuellen individuellen homosexuellen Lebensstile, die der Identitätsbildung heute im Wege stehen sollen, bleiben für Dannecker liquide Verhaltensmuster, gleichsam Phänomene zweiter Ordnung, die letztlich doch prädominiert werden durch das elementare (Selbst-)Bewusstsein, homosexuell zu sein.

Tatsächlich scheint Hutters "Typologie schwuler Identitäten" nicht unbedingt geeignet, den homosexuellen Identitätsbegriff zu verabschieden. Sollte denn etwa der Abstand zwischen dem romantischen "Herzschwulen" und dem antibürgerlichen "Kopfschwulen" wirklich so groß sein, dass darüber die Selbstidentifikation als Homosexueller vergessen wird? Dannecker führt - einmal mehr - homosexuelle Grunderfahrungen wie das schmerzvolle Durchleben des Coming-outs und das Erlebnis antihomosexueller Gewaltattacken ins Feld. Hutters historischer Zuversicht, bald an das Ufer besserer Zeiten zu gelangen, wo "Schwule ihr Leben selbstbestimmt entwickeln können", hält Dannecker den Pessimismus des Psychoanalytikers entgegen.

Unterschiedliche Perspektiven zeitigen demnach unterschiedliche Ergebnisse und Beurteilungen. Wie überhaupt der an Karl Heinrich Ulrichs anknüpfende Streit um die homosexuelle Identität offenbart, dass Argument und Glaube mitunter nahe beieinander liegen. Dies sei lediglich konstatiert - spannend bleibt der Austausch der Meinungen samt ihren jeweiligen Begründungen allemal.




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