Robert Deam Tobin:
Warm Brothers. Queer Theory and the Age of Goethe.

Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2000, 240 S., $ 39,95 bzw. DM 97,66

Rezension von Angela Steidele, Köln

Erschienen in Invertito 3 (2001)

Queer ist "in". Zumindest, wenn man den Zeitungsmarkt für Schwule hier zu Lande betrachtet und den akademischen Forschungszweig in den USA, der einstmals Lesbian and Gay Studies hieß. Das Versprechen von queer ist groß. Queer will - in seiner akademischen Spielart als Queer Theory[1] - monolithische Konzepte sexueller Identitäten in Frage stellen, indem die zugrunde liegenden Kategorien dekonstruiert werden. Das Konzept von queer fokussiert Positionalitäten statt Identitäten und versucht sich - anstelle der und gegen die Homogenisierungstendenzen der Lesbian and Gay Studies - an der Subversion von Ontologien. Das Konzept der Queerness hat fruchtbare Debatten auch in Deutschland im philosophischen und feministischen Diskurs entzündet, wie nicht zuletzt die Rezeption von Judith Butlers[2] Werken zeigt. Welchen Gewinn die Queer Theory für literaturwissenschaftliche und historische Fragestellungen verspricht, wurde in unseren Breiten hingegen noch kaum erörtert. Robert Tobins Buch ist ein erster Versuch, das Konzept von queer in eine literarhistorische Studie zu deutschsprachigen Texten einzuführen.

Das akademische Feld, auf dem sich Tobin bewegt, ist nicht ungepflügt: Die Goethezeit ist von der traditionellen Germanistik reichlich beackert worden; darüber hinaus liegen etliche Arbeiten vor, die die Literatur dieser Zeit auf ihre Darstellung mann-männlichen Begehrens hin untersuchen.[3] Vor allem Paul Derks und Heinrich Detering haben hier Maßstäbe gesetzt.[4] Tobin tritt nun an, den "schwulen" Blick durch die Perspektive von queer zu ersetzen.

Das Buch beginnt mit zwei einleitenden Kapiteln, die den historischen Hintergrund beleuchten sowie die sprachlichen und kulturellen Signifikanten rund um die Männerliebe der Zeit untersuchen. Die sich daran anschließenden literaturwissenschaftlichen Einzelanalysen reichen von Jean Pauls Siebenkäs über Christoph Martin Wielands Agathon, Karl Philipp Moritz' Anton Reiser und Friedrich Schillers Don Carlos bis zu den Aphorismen Georg Christoph Lichtenbergs. Drei zentrale Kapitel behandeln Werke Johann Wolfgang von Goethes. Bis auf die Goethe-Sequenz sind die einzelnen Kapitel nur lose durch die Fragestellung verbunden. Wie aus dem Schlusskapitel "Made in Germany: Modern Sexuality" deutlich wird, will Tobin insgesamt zeigen, dass wesentliche Aspekte des Verständnisses von (Homo-)Sexualität, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden und in vielen Bereichen bis heute gültig sind, in den von ihm untersuchten deutschsprachigen Texten des 18. Jahrhunderts angelegt sind.

Goethe liegt Tobin am meisten. Das Kapitel "Performing Gender in Wilhelm Meister: Goethe on Italian Transvestites" diskutiert den Essay Frauenrollen auf dem römischen Theater, durch Männer gespielt (1788), in dem Goethe feststellt, dass Männer, die Frauen spielen, mehr über "Weiblichkeit" aussagen als Frauen selber. Nach einer eleganten Analyse dicht am Text kommt Tobin zu dem Ergebnis: "Goethe's [...] essay suggests that gender is a constructed, performed, and performative discourse rather than an innate essence [...]. It therefore suggests that the contradictory reactions to cross-dressing in current discussions emerge from structures of sexuality and gender already present in eighteenth-century discourses" (118). Judith Butler scheint in Goethe ihren Meister zu finden, was die Thesen von der Performativität von gender betrifft. Im Anschluss an diesen Essay, der Männer in Frauenkleidern behandelt, interpretiert Tobin Wilhelm Meisters Lehrjahre, in dem fast alle weiblichen Figuren in Männerkleidung auftreten. Schon im Kapitel zuvor (108-113) ist der Autor auf die homoerotischen Implikationen eingegangen, die die Liebesbeziehungen des Helden zu Frauen dadurch erlangen. Nun interpretiert Tobin nachvollziehbar die Begegnung mit dem cross-dressing als wesentliches Element von Wilhelms Bildungsgang: "[The] cross-dressed female characters can show Wilhelm Meister how masculinity functions, allowing him to learn to perform his gender" (124). Im anschließenden Kapitel untersucht Tobin am Beispiel der Gedichte Prometheus und Ganymed sowie der dramatischen Figuren Faust und Mephisto Phänomene der gender-Konzeption und des Begehrens, die im eigentlichen Sinn queer genannt werden können: "Goethe consistently directs male desire for the feminine through other men" (133). Erneut entwickelt Tobin dabei durch seine akribische Arbeit eng am Text große Überzeugungskraft.

Leider lässt sich dies nicht für alle anderen Kapitel und auch nicht für das Buch insgesamt sagen. Tobins Versuch, Wielands Agathon (1766/67) und Moritz' Anton Reiser (1785/90) mit dem Diskurs zur Pathologisierung der Männerliebe zu verbinden, ist missraten, und zwar nicht nur, weil dieser Diskurs, wie Tobin selbst feststellt (69), erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt wird. Für Agathon arbeitet Tobin, sich selbst widersprechend, heraus, dass sich der Roman souverän vom moralisch-medizinischen Diskurs distanziert (78). Und wenn er Anton Reisers Melancholie und Selbsthass einzig als Reaktionen auf seine Männerliebe interpretiert, ignoriert Tobin die im Roman sehr viel breiter angelegten Gründe für diese Disposition: Antons bettelarme Herkunft, die zahllosen Demütigungen, die er erleben muss, die grundsätzliche Verletzung seiner Existenz, nicht nur seiner Sexualität. Auch Tobins Ausführungen zu Schiller bleiben schwach: Zum Malteser-Fragment (156-158) lese man besser Derks,[5] und die Behauptung, das Autodafé der Ketzer in Don Carlos spiele auf Massenhinrichtungen von sodomitischen Männern an, wie die Etymologie der englischen "faggots" nahe lege (160), ist nicht nachvollziehbar.

Im Kapitel zu Lichtenberg häufen sich solche Schnitzer. Dass Lichtenberg eine Freundin "Komet" nannte und infolgedessen, wenn er vom "Kometen" schrieb, auch das maskuline Pronomen benutzte, liegt vermutlich mehr an der deutschen Grammatik als an einem gleichgeschlechtlichen Begehren (178). Und Lichtenbergs Begründung, er habe eine junge Frau zu sich genommen, um sie vor Sodom alias Göttingen zu retten, hat wahrscheinlich weniger mit einem homoerotischen Begehren Lichtenbergs zu tun, wie Tobin meint (178), als mit dem Ende der Sodomsgeschichte: Lot versucht, den Konflikt mit den Sodomitern zu lösen, indem er seine zwei Töchter zur Vergewaltigung anbietet (1. Mose 19, 6-8). Nachdem Tobin nach weiteren Spuren von mann-männlichem Begehren in den Aphorismen Lichtenbergs gefahndet und die Gattung als solche untersucht hat, kommt er zu dem Schluss: "In summary, the aphorism has been received, interpreted, and passed on in ways that make it very accessible to homosexuals. In its misogyny and glorification of masculinity, it allowed a covert expression of male-male desire. More profoundly and universally, in its radical destabilization of dualities it queers the gendered bifurcation of male and female. In blurring the boundary between authorial subject and textual object, it allows the queer author to engender queer texts" (192). Hier bestätigt sich ein Verdacht, der die Lektüre des Buches von Beginn an begleitet: Wenn der Aphorismus nach Tobin besonders queer sein soll und Misogynie sein Markenzeichen ist - was würde Marie von Ebner-Eschenbach dazu sagen! -, dann ist Tobins Konzept von queer nichts anderes als Etikettenschwindel für einen bestimmten "schwulen" und/oder frauenfeindlichen Blick. Der "queer author", den Tobin hier anvisiert, dürfte in den seltensten Fällen eine Autorin sein: Queer als Konzept, das - in der Theorie zumindest - Repressionsmechanismen ausschalten will, kommt hier schnell an seine andro-, wenn nicht gar phallogozentristischen Grenzen. Diese Verwechslung von queer mit gay durchzieht das ganze Buch. Allein schon die Auswahl ausschließlich männlicher Autoren zeigt, dass Tobins Ansatz mehr den alten Gay Studies verhaftet ist, wie etwa auch seine Lektüre von Jean Pauls Siebenkäs zeigt. Queer Theory bleibt mehr ein Versprechen als eine Erfüllung.

Durch solche Inkohärenzen und die erwähnten Schnitzer misstrauisch gemacht, findet der beckmesserische Blick viele weitere Schwachstellen: Hans Mayers Außenseiter sind nicht 1981 zum ersten Mal erschienen (4), sondern 1975, August von Platen (1796-1835) ist wohl kaum dem 18. Jahrhundert zuzurechnen (4), und Friederike Brun hieß nicht "Brün" (20). Auf Daten aus England und den Niederlanden zurückzugreifen, um den historischen Hintergrund in Deutschland zu erläutern, ist methodologisch fragwürdig (6-14). Mehrfach werden Widersprüche offenbar, etwa, wenn Tobin zu Beginn behauptet, die Männerliebe sei frei von Misogynie gewesen (29), um dann später die Frauenfeindlichkeit in "schwulen" Texten von Jean Paul (46) und Lichtenberg (190) zu tadeln. Dass sich Tobin häufig auf Zitate seiner Kollegen verlässt, statt selbst in den keineswegs unzugänglichen Quellen nachzuschlagen, vervollständigt den Eindruck, dass hier nicht solide gearbeitet wurde.

Schließlich sei auf einen letzten Aspekt hingewiesen, der zwiespältige Gefühle hinterlässt. Tobins Buch ist für das US-amerikanische Publikum geschrieben, wie aus dem Vorwort und dem letzten Kapitel deutlich wird. Als solches hat das Werk eine verdienstvolle Vermittlerfunktion. Wer allerdings in den Diskussionszusammenhang zur Männerliebe im 18. Jahrhundert in Deutschland eingearbeitet ist, wer Derks, Detering und andere gelesen hat, wird bei Tobin wenig Neues finden. Alles in allem hinterlassen die Warm Brothers daher einen eher kühlen Eindruck. Die hervorgehobenen Analysen von Goethes Werken machen deutlich, dass das Konzept von queer als Ansatz für literarhistorische Analysen im deutschen Sprachraum durchaus erkenntnisfördernd angewendet werden kann. Andere Kapitel hingegen zeigen, dass nicht alles queer ist, was vorgibt, queer zu sein. Die nur zögerliche Aufnahme, die die Queer Theory in der deutschen Literatur- und Kulturwissenschaft findet, wird durch dieses Buch kaum beschleunigt werden.

[1] Jagose, Annamarie: Queer theory, New York: New York University Press 1996.
[2] Butler, Judith: Gender trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York: Routledge 1990.
[3] Dietrich, Hans [Hans Dietrich Hellbach]: Die Freundesliebe in der deutschen Literatur, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1931, Berlin: Verlag rosa Winkel 1996. Mayer, Hans: Außenseiter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975. Popp, Wolfgang: Männerliebe. Homosexualität und Literatur, Stuttgart: Metzler 1992. Kuzniar, Alice A. (Hg.): Outing Goethe and His Age. Stanford: Stanford University Press 1996. Richter, Simon: The Ins and Outs of Intimacy. Gender, Epistolary Culture, and the Public Sphere, in: The German Quarterly 1 (1996), S. 111-124. Lorey, Christoph / Plews, John L. (Hg.): Queering the Canon. Defying Sights in German Literature and Culture, Drawer: Camden House 1998.
[4] Derks, Paul: Die Schande der heiligen Päderastie. Homosexualität und Öffentlichkeit in der deutschen Literatur 1750-1850, Berlin: Verlag rosa Winkel 1990. Detering, Heinrich: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann, Göttingen: Wallstein 1994.
[5] Derks 1990, S. 370-377.




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