Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus:
Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland

KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Bremen: Edition Temmen 1999, 204 S., 19,90 DM

Rezension von Michael Prescher, Köln

Erschienen in Invertito 2 (2000)

Der vorliegende Band zur Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit widmet sich speziell der Situation in Norddeutschland - vor allem in den Konzentrationslagern Ravensbrück, Neuengamme, Bergen-Belsen sowie in den Emslandlagern und im Zuchthaus Celle. Auf Basis unterschiedlichen Quellenmaterials - Häftlingsverzeichnissen, Prozessakten und Zeitzeugenberichten - liefern die Lokalstudien einen vorläufigen Überblick. Zugleich zieht sich als roter Faden durch fast alle Beiträge der zehn (Haupt-)AutorInnen die Auseinandersetzung mit der schwierigen Quellenlage.

Besonders eindringlich beschreiben Rainer Hoffschildt und Thomas Rahe - im Rahmen ihrer Untersuchung über (männliche) homosexuelle Häftlinge im KZ Bergen-Belsen - das von ihnen als spezifisches Problem der Homosexuellenforschung erkannte "Quellendefizit". Gemeint sind die Vernichtung von Prozessakten (den traurigen Fall der Vernichtung Hamburger Gerichtsakten rollt wiederum ein eigener Beitrag von Stefan Micheler auf), die unvollständige Überlieferung von Häftlingskarteien sowie der erschwerende Umstand, dass homosexuelle Häftlinge auch unter anderen Kategorien (als Asoziale oder Kriminelle) erfasst wurden und somit schwer ausfindig zu machen sind. Vor allem aber, so die übereinstimmende Klage der AutorInnen, hat die Kontinuität der Verfolgung homosexueller Männer nach 1945 (durch Beibehaltung des § 175) dafür gesorgt, dass es kaum autobiographische Zeugnisse aus Sicht der Betroffenen gibt. Die - sehr wohl berechtigte - Angst vor weiterer Verfolgung hat die Opfer im nachhinein stumm gemacht.

Ein erschreckendes Beispiel für die Kontinuität der Diskriminierung und Ausgrenzung in der Nachkriegszeit beschreibt Susanne zur Nieden in ihrem Beitrag über jene Homosexuelle, denen in Berlin in den Jahren zwischen 1945 und1949 der Status als "Opfer des Faschismus" aberkannt wurde. Die Betroffenen wehrten sich nach Kräften, mit den besten Argumenten. In einem Einspruchschreiben heißt es flehentlich: "Einen derartigen Eingriff [d. i. die "Entmannung", M.P.] am gesunden Menschenkörper hat es nur im Nazi-Deutschland gegeben und müsste Sie zu der Überzeugung bringen, dass ich durch diesen brutalen Eingriff schon Opfer des Faschismus geworden bin." Beim zuständigen Ausschuss findet der Einspruch indes kein Gehör. Es bleibt bei der Aberkennung des Opferstatus - obendrein gekrönt mit einem weiteren Nachtritt, dem Ausschluss aus der SED. Zur Nieden deckt sogar Fälle von "aberkannten" Homosexuellen auf, die zusätzlich wegen Meineids und Betruges verklagt wurden, allein weil sie Anspruch angemeldet hatten, als Opfer des Nazi-Terrors (die sie doch waren!) anerkannt zu werden.

Was die Rekonstruktion der Verfolgung homosexueller Frauen betrifft, so sind hier, das ist bekannt, die Rahmenbedingungen noch einmal ungünstiger als bei den verfolgten Männern - Spiegelbild dessen, dass für die NS-Verfolger die Kategorie "lesbisch" kein Begriff von übergeordneter Bedeutung war und daher nicht zur Grundlage eines selbständigen Straftatbestands wurde. Claudia Schoppmann, die die "Situation lesbischer Frauen in den Konzentrationslagern" erhellen möchte, kommt daher nicht umhin, vor allem die Grenzen ihres Vorhabens anzusprechen. Inhaftierte homosexuelle Frauen blieben oft unsichtbar, weil sie in anderen Zusammenhängen kriminalisiert und inhaftiert wurden, in anderen Opfergruppen - zumeist als "Asoziale" - gleichsam "verschwanden". Schwer zu erkennen bleiben wiederum auch jene homosexuellen Frauen, die aus anderen - politischen oder rassischen - Gründen inhaftiert wurden. Da diese ihre sexuelle Orientierung im Rahmen ihrer Identitätskonstruktion im wesentlich außen vor ließen, geht dieser Aspekt auch in ihren späteren Erinnerungen an die Haft- und Lagerzeit weitgehend unter. Mithin fehlen jedwede Selbstzeugnisse aus Sicht homosexueller Frauen. Kerstin Meier versucht daher in ihrem Beitrag, den vorhandenen Autobiographien heterosexueller weiblicher Überlebender Auskünfte zu entnehmen - und kommt dabei zu dem Schluss, dass diese nur sehr eingeschränkt zur Erhellung beitragen können, da aufgrund der vorherrschenden homophoben Grundhaltung der Autorinnen lesbische Mitgefangene überwiegend abwertend dargestellt werden. Kerstin Meier leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Quellenkritik, die Geschichte lesbischer Frauen im KZ liegt aber vorerst weiter im Dunkeln.

Mehrere der Untersuchungen, die sich mit der Situation inhaftierter homosexuellen Männer beschäftigen, weisen in die bereits bekannte Richtung: Die "Rosa-Winkel-Häftlinge" waren in der Lagerhierarchie weit unten angesiedelt, daher besonderen Schikanen und Drangsalen ausgesetzt und demzufolge in höherem Maße als andere nicht-jüdische Opfergruppen vom Tode bedroht. Gestützt auf die Aufzeichnungen zweier (nicht homosexueller) Lagerinsassen schildert Bernhard Strebel die Demütigung der "Abkehr"-Prüfungen im Männerlager des (Frauen-)Konzentrationslagers Ravensbrück, wo homosexuelle Häftlinge - auf Anordnung Heinrich Himmlers - zum Geschlechtsverkehr mit Prostituierten gezwungen wurden. 168 homosexuelle Häftlinge (0,8% aller Häftlinge) konnte Strebel anhand der erhaltenen Häftlingsverzeichnisse ("Nummernbücher") ermitteln. Davon haben 45 die Haft nicht überlebt. Da die meisten im Jahr 1942 starben und danach die Sterbeziffern abnahmen, schließt Strebel auf eine Verbesserung der Situation homosexueller Gefangener ab 1943. Die Todesrate der homosexuellen Häftlinge (26%) liegt in Ravensbrück danach deutlich über der anderer Verfolgtengruppen, etwa den "Asozialen" (17%), politischen Häftlingen (13%) oder Bibelforschern (3%) - aber noch deutlich unter der der Juden (63%). Für das KZ Bergen-Belsen ermitteln Rainer Hoffschildt und Thomas Rahe den Tod von einem Drittel der homosexuellen Häftlinge (wobei hier die zugrundeliegende Datenbasis - mit bisher erschlossenen 25 "Rosa-Winkel-Häftlingen" - erklärtermaßen schwach ist). Rainer Hoffschildts "Statistische Daten zu homosexuellen Gefangenen im Zuchthaus Celle 1938-1945" (Datenbasis: 162 Gefangene) zeigen ebenfalls eine hohe Sterblichkeit an: Über die nachweisbaren Todesfälle (28%) hinaus errechnet Hoffschildt - unter Einbeziehung der unbekannten Schicksale - eine Todesrate von etwa 50%.

So hoch diese Werte liegen, bleiben sie doch immerhin unter der Zahl von 60%, die von Rüdiger Lautmann und anderen bereits vor mehr als 20 Jahren in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht wurden. Um so verwunderlicher, dass manche AutorInnnen sich stets bei dieser Zahl rückversichern, als ob sie ihren eigenen Ergebnissen zu wenig trauten. Ähnliche Irritationen hinterlässt auch der Umgang mit der Frage der Einordnung homosexueller Häftlinge in die Lagerhierarchie. Obwohl in diesem Punkt mehrere AutorInnen durchaus zu differenzierten Ergebnissen gelangen - Hoffschildt/Rahe weisen darauf hin, dass für einzelne Homosexuelle ein Aufstieg in der Lagerhierarchie durchaus möglich war; Carola von Bülow hält für die Emslandlager die "horizontale" Sonderstellung wichtiger als die "vertikale" (hierarchische); Jens Michelsen zitiert aus der Erinnerungsliteratur einzelne homosexuelle "Aktivisten", die sich in der Lagerhierarchie zu behaupten wussten - wird doch immer wieder auf den überlieferten Topos "Homosexuelle am unteren Ende der Lagerhierarchie" zurückgegriffen statt aus den abweichenden Ergebnissen neue Fragen abzuleiten. Nicht zuletzt ist es wohl auch der Kürze der meisten - selten mehr als zehn Seiten starken - Beiträge geschuldet, dass manches Angesprochene nicht weiter ausgeführt wird.

In einem (selbst-)kritischen Resümee der versammelten Aufsätze - wie der Leistungen der bisherigen Homosexuellenforschung insgesamt - fordert Rüdiger Lautmann seine KollegInnen (und sich selbst) dazu auf, aus dem Schema allein "summarischer" Analysen (wo allein auf einer Erkenntnisebene die (Zahlen-)Ergebnisse zusammengetragen werden) auszubrechen. Um künftig verstärkt in die Details und in die Differenzierungen zu gelangen, wünscht sich Lautmann eine mehr "vertiefende" Forschung, die sich ihrem jeweiligen Untersuchungsgegenstand aus mehreren Blickwinkeln nähert, indem sie verschiedene Erkenntnisebenen miteinander verknüpft. In diesem Zusammenhang hebt Lautmann - zu Recht - den vielschichtigen Beitrag von Stefan Micheler hervor, der den "Fall Heinrich Erich Starke" aufgreift. Mittels sich ergänzender Quellen - statistischer Angaben, Verhörprotokollen und Erinnerungsliteratur - rekonstruiert Micheler das Beispiel einer homosexuellen Opferbiographie. Dabei wird die Verfolgungssituation - in der Radikalisierung von den 20er bis in die 40er Jahre - dadurch besonders anschaulich, dass hier sowohl die immer erdrückenderen Mühlen des repressiver werdenden Staatsapparates sichtbar werden als auch die verzweifelten Anpassungsreaktionen und Gegenwehrversuche seiner Opfer.




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