Kai Sommer:
Die Strafbarkeit der Homosexualität von der Kaiserzeit bis zum Nationalsozialismus.

Eine Analyse der Straftatbestände im Strafgesetzbuch und in den Reformentwürfen (1871-1945), Frankfurt am Main / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien: Lang 1998 (= Rechtshistorische Reihe; Bd. 187; zugl.: Kiel, Univ., Diss.), 426 S., 118 DM

Rezension von Herbert Potthoff, Köln

Erschienen in Invertito 2 (2000)

123 Jahre war in Deutschland der § 175 des Strafgesetzbuchs in Kraft. Er stellte homosexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe. Vorgeschichte und Geschichte dieses Paragraphen bis zum Ende des Nationalsozialismus werden von Kai Sommer in einer umfangreichen Dissertation untersucht. Es geht dem Autor um die Entstehung des § 175, seine Anwendung durch die Justiz und die Diskussion über seine Reform zwischen den Polen Abschaffung und Verschärfung. Den Schwerpunkt der Untersuchung bildet die juristische Diskussion (Gesetzgebung und Gesetzesanwendung), einbezogen sind, soweit sie die juristische Diskussion beeinflusst haben, Beiträge der Gerichtsmedizin und der Sexualwissenschaft.

Bestimmend für die Entwicklung in Deutschland war das preußische Strafgesetzbuch von 1851, dessen § 143 nach der Reichsgründung 1871 als § 175 vom Reichsstrafgesetzbuch übernommen wurde. Als die Vorschriften zur Bestrafung männlicher Homosexualität ins Strafgesetz aufgenommen wurden, berief sich der Gesetzgeber auf das Naturgesetz und das Rechtsempfinden der Bürger; eine weitergehende juristische Begründung fehlt. Bestraft wurde "widernatürliche Unzucht" "zwischen Personen männlichen Geschlechts". Dieser vage Tatbestand wurde durch die Rechtsprechung auf beischlafähnliche Handlungen eingeschränkt. Das schloss Oralverkehr mit Samenerguss ein, ließ aber im Einzelfall noch genügend Möglichkeiten für widersprüchliche und unlogische Auslegungen. Onanie, auch gegenseitige, blieb straffrei. Seit dem preußischen Strafgesetzentwurf von 1847 sind Frauen ausdrücklich von Strafe ausgenommen. Eine Begründung dafür wurde nicht veröffentlicht.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts setzten sich außer Moraltheologen und Juristen zunehmend auch Mediziner, Psychiater und Sexualwissenschaftler mit der Frage der Homosexualität auseinander. Von letzteren sprachen sich die meisten gegen eine Bestrafung der "widernatürlichen Unzucht" aus, zumindest dann, wenn keine Gewaltanwendung, keine Verführung Minderjähriger, keine Erregung öffentlichen Ärgernisses oder Prostitution vorlagen. Ihre Stellungnahmen wurden aber weder von der Rechtsprechung noch von der Politik beachtet. Das zeigte sich vor allem bei der Diskussion über die Reform des Reichsstrafgesetzbuches zwischen 1909 und 1913. Diese Diskussion wurde durch eine sich in der Öffentlichkeit ausbreitende antihomosexuelle Stimmung in der Folge der Eulenburg-Affäre belastet. Der öffentliche Druck bewirkte, dass der Entwurf der Strafrechtsreformkommission von 1913 "widernatürliche Unzucht" unter Männern mit schärferen Strafen bedrohte. Da es prinzipienlos sei, entsprechende "Akte zwischen Frauen" straffrei zu lassen, wollte der Vorentwurf von 1909 "widernatürliche Unzucht mit einer Person gleichen Geschlechts" bestrafen. Nach heftigen Protesten von wissenschaftlicher Seite und von Seiten der sich formierenden Homosexuellen- und der Frauenbewegung wurde die Ausdehnung der Strafbarkeit auf lesbische Frauen im endgültigen Entwurf wieder aufgegeben. Die Forderung der Homosexuellenbewegung, auch einfache homosexuelle Handlungen unter Männern von Strafe zu befreien, wurde nicht berücksichtigt. Der Krieg verhinderte den Beschluss des Reformgesetzes.

Neue Hoffnungen auf eine Liberalisierung des Sexualstrafrechts weckte die Verfassung der Weimarer Republik, die den Prinzipien des klassischen Liberalismus verpflichtet war. Die Homosexuellen-Organisationen verstärkten ihre Reformappelle. Das Auf und Ab der Diskussion in den zwanziger Jahren, das Sommer in allen (manchmal ermüdenden) Einzelheiten schildert, kann hier nicht wiedergegeben werden. Die Standpunkte reichen von der Befürwortung der Straffreiheit einfacher männlicher Homosexualität bis zum Festhalten an ihrer Bestrafung. Entsprechend der Diskussion vor dem Weltkrieg wurden Forderungen nach Einführung sogenannter qualifizierter Straftatbestände mit erheblich verschärften Strafen erhoben (z.B. "Unzucht" mit Jugendlichen oder Abhängigen, männliche Prostitution). Angesichts der offenen Diskussion war es ein etwas überraschendes Ergebnis, dass der Reichstagsausschuss zur Strafrechtsreform am 8. Oktober 1929 mit knapper Mehrheit die Bestrafung der einfachen widernatürlichen Unzucht zwischen Männern aus dem Gesetzentwurf strich. Gleichzeitig stimmte er für die Aufnahme der qualifizierten Straftatbestände in das Strafgesetzbuch. Da ab 1930 die demokratischen Parteien keine Mehrheit mehr im Reichstag besaßen, erlangte der gesamte Reformvorschlag des Reichstagsausschusses keine Gesetzeskraft mehr.

Die Reform des Strafrechts wurde vom NS-Regime erneut in Angriff genommen, diesmal aber mit dem Ziel, das Recht der nationalsozialistischen Rassen- und Bevölkerungspolitik unterzuordnen. Für das Homosexuellenstrafrecht hieß das, dass die schärfsten Strafforderungen der Diskussion der Weimarer Zeit aufgegriffen wurden. Die Ausdehnung der Strafbarkeit auf weibliche Homosexualität wurde zwar diskutiert, aber nicht realisiert. Das hing vor allem damit zusammen, dass sexuelle Beziehungen zwischen Frauen für weniger staatsgefährdend als solche zwischen Männern angesehen wurden. Da die angestrebte Gesamtreform des Strafrechts eine langwierige Aufgabe war, wurde das Homosexuellenstrafrecht im Vorgriff durch eine Gesetzesnovelle geändert (Strafrechtsnovelle vom 28. Juni1935, in Kraft getreten am 1. September 1935). Strafbar war nun "Unzucht" zwischen Männern; die bisherige Beschränkung auf "widernatürliche Unzucht" wurde aufgegeben. Mit besonders hohen Strafen wurden die qualifizierten Fälle belegt (§ 175a). Da die Nationalsozialisten Homosexualität in den meisten Fällen für erworben hielten, hofften sie, durch hartes Vorgehen der Ausbreitung der "Seuche" entgegenwirken zu können.

Dem schärferen strafrechtlichen Vorgehen gegen die Homosexuellen ging die Zerschlagung der Homosexuellenbewegung voraus. Schon 1933 wurden zudem die ersten gesetzlichen Grundlagen geschaffen, nach denen "Sittlichkeitsverbrecher" kastriert werden konnten. Die Einweisung ins KZ und seit 1941 die Todesstrafe bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen (Pädophilie; homosexuelle Handlungen bei Polizei und SS) waren die traurigen Höhepunkte der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung.

§ 175 blieb in der von den Nationalsozialisten verschärften Form in der Bundesrepublik bis 1969 in Kraft. Bei der Beurteilung der Verschärfung durch die Nationalsozialisten übernimmt der Autor ohne Diskussion die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts von 1951, dass die Novelle von 1935 kein typisch nationalsozialistisches (Un-)Recht darstellt. Ebenso fehlt eine kritische Stellungnahme zu den Auswirkungen dieses höchstrichterlichen Urteils, das schließlich die Grundlage für die weitere Strafverfolgung und die weitgehend ausgebliebene Entschädigung homosexueller Opfer des NS-Regimes und ihre bisher nicht erfolgte juristische Rehabilitierung war.

Insgesamt bietet der Autor eine grundlegende und umfassende Bearbeitung des Themas. Die Arbeit besticht durch die Fülle des ausgebreiteten Materials (einschließlich eines Anhangs mit Gesetzestexten, Reformvorschlägen und Verurteilten-Statistiken). Was die Detailgenauigkeit betrifft, liegt nichts Vergleichbares vor; grundsätzlich neue Erkenntnisse, die über das hinausgehen, was etwa bei Jürgen Baumann (Paragraph 175, Tübingen 1968) oder Jörg Hutter (Die gesellschaftliche Kontrolle des homosexuellen Begehrens, Frankfurt am Main / New York 1992) nachzulesen ist, liefert Sommer nicht. Die Diskussionen über die Strafbarkeit oder Straffreiheit weiblicher Homosexualität erwähnt Sommer zwar, widmet ihnen aber weniger Aufmerksamkeit als der Titel seiner Arbeit verspricht. Immerhin weist er bezüglich der NS-Politik gegenüber lesbischen Frauen auf die Arbeit von Claudia Schoppmann hin (Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität, Pfaffenweiler 1991). Ärgerlich sind erhebliche sprachliche Mängel und Druckfehler, die durch sorgfältigere Redaktion zu vermeiden gewesen wären.

Angesichts der Fülle des Materials kommen Zusammenfassung und Analyse zu kurz. Die verschiedenen Positionen werden dokumentiert, aber kaum hinterfragt. Die Ausführungen zur Entwicklung der Homosexuellenbewegung dienen wohl der Selbstverständigung des Autors, sind von der Problemstellung des Buches her aber verzichtbar.

Da der Autor die Frage nach der Berechtigung bzw. Rechtmäßigkeit der Bestrafung sexueller Handlungen unter Männern nicht stellt, fehlen logischerweise dann auch Überlegungen, ob es nicht endlich an der Zeit wäre, die Männer, die nach diesem unseligen Paragraphen verurteilt wurden, juristisch zu rehabilitieren und ihnen für verbüßte Haftstrafen und Einkommens- und Vermögensverluste Entschädigung zukommen zu lassen. Ein Ausgleich für entgangene Lebenschancen ist nicht mehr möglich; ihnen die bürgerliche Ehre zurückzugeben ist überfällig.




Zum Seitenanfang     Zur Übersicht von Invertito 2