Katrin Schmersahl:
Medizin und Geschlecht.

Zur Konstruktion der Kategorie Geschlecht im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, Opladen: Leske + Budrich 1998, 383 S., 68 DM

Rezension von Angela Taeger, Oldenburg

Erschienen in Invertito 2 (2000)

Die Verfasserin beklagt die Ignoranz von Medizinhistorikerinnen und -historikern gegenüber dem Thema Geschlechterverhältnisse, Geschlechterdifferenz. Sie kritisiert das Unvermögen oder den Unwillen medizinhistorisch Forschender, einerseits die Geschlechtsneutralität von Wissenschaft zu problematisieren, sich andererseits der Rhetorik der Figur einer naturhaften Geschlechterordnung zu widmen. Schmersahl ordnet ihr Unternehmen selbst der "medizinhistorischen Geschlechterforschung" (S. 2) in diskursanalytischer Absicht zu. Sie verfolgt im 19. Jahrhundert maßgeblich von Medizinern entwickelte, in Teilen bis in die Gegenwart fortwirkende "Denksysteme" (S. 2), "Denkmuster" (S.3), Deutungsmuster also, und ein doppeltes Erkenntnisinteresse. Den Ein- und Rückwirkungen des bilateralen Austauschs von naturwissenschaftlichen und (anderen) sozialen Konstruktionen über die Geschlechter und ihr Verhältnis gilt ihre Aufmerksamkeit. Leiten die im 19. Jahrhundert erfolgreich popularisierten Topoi über die Binarität der Geschlechter den medizinischen Diskurs? Tragen medizinische Deutungsmuster zu Geschlecht zur Verfestigung solcher Topoi bei? Auf den ersten Blick nehmen sich solche Fragen für die mit den Forschungen von Honegger, Duden, Laqueur und Foucault halbwegs vertrauten Leserin - und wohl auch für die Autorin, die sehr sachkundig über diese richtungweisenden, mittlerweile "klassischen" Werke informiert, wie rhetorische aus. Sie werden indes in origineller Weise variiert, konkretisiert - und bearbeitet.

Nimmt sich die medizinische Wissenschaft der Naturalisierung von gender an; trägt sie mit geschlechtsspezifischen Deutungen von "gesund" und "krank" bei zur Generierung bürgerlicher Normen? Greifen Mediziner Geschlechterstereotypen auf, um sie im Sinne von Professionalisierung und Medikalisierung zu nutzen? Um Antworten zu finden, zieht Schmersahl ebenso umfängliches wie heterogenes Quellenmaterial aus dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert heran: Dazu gehören einerseits Publikationen von Medizinern und Wissenschaftlern benachbarter Disziplinen, die als opinion-leaders gelten können, renommierte gynäkologisch, neurologisch und psychiatrisch ausgerichtete Fachblätter sowie zentrale standespolitische Organe der Ärzteschaft. Um den Verschränkungen und wechselseitigen Stimulierungen unterschiedlicher Diskurse folgen zu können, lässt die Autorin sich andererseits ein auf nicht-medizinisches, Geschlecht, Geschlechterdifferenz und -verhältnisse thematisierendes Schrifttum. Auch bei dieser Quellengruppe leitet im Wesentlichen der Grad der Popularität von Autor oder Oeuvre die Auswahl und seine Etikettierung als "exemplarisch" (S. 15). Das erste Kapitel präsentiert zwei solcher Standardwerke: die "Naturgeschichte des Volks als Grundlage einer deutschen Social-Politik" Wilhelm Heinrich Riehls und "Das Mutterrecht" von Johann Jakob Bachofen. Beide hinterlassen im medizinischen Denken der Folgezeit deutliche Spuren, gelten der Autorin als Prototypen für Konzepte einer biotisch begründeten Geschlechterdifferenz, deren Ausformulierung jedoch der Naturwissenschaft, hier vorzugsweise Medizinern, überlassen bleibe. Dies zu belegen, bemüht sich Schmersahl - im zweiten Kapitel in Auseinandersetzung mit Psychiatrie und sich formierender Sexualwissenschaft allgemein, in den fünf folgenden Kapiteln anhand einzelner Pathologisierungsvorgänge. Argumentativer Ausgangspunkt und analytischer Leitsektor ist dabei der medizinische Diskurs über Homosexualität. Die kulturelle und medizinische Konstruktion von "Mannweibern" wird nachgezeichnet, konkurrierende Konzepte einzelner medizinischer Fächer zur "Hysterie" werden diskutiert. Schließlich bilanziert die Autorin die einzelnen Krankheits-"Bilder" in einer Zusammenschau, die abhebt auf den langsamen Verlagerungsprozess des Fundaments medizinischer Deutungsmuster von der Degenerationslehre hin zu psycho- und soziogenen Konzeptionen im endenden 19. Jahrhundert.

Schmersahl verzichtet auf ein Resümee ihrer Ergebnisse. Zu Recht. Denn sie fasst ihre Argumentation und die Befunde jeweils zu Anfang und am Ende eines Kapitels (allzu schulmäßig) zusammen; die Bestätigung ihrer Vermutung über die Bedeutsamkeit von Medizinern als Souffleure im Diskurs über die Geschlechter und ihre Ordnung gelingt implizit und überzeugend. An der Stelle eines also überflüssigen Schlussworts findet sich dann doch eines, das keins sein will. Unter der - hier, wie allenthalben, gelungenen - Überschrift "Bedeutung und Werth des weiblichen Schwachsinnes in einer emancipationslüsternen Zeit" werden die misogynen tagespolitischen Einlassungen der Ärzteschaft um 1900 vorgestellt, weitere Belege für die weitreichende Deutungsmacht der Medizin. Das Buch endet - schlüssig - mit dem Referat einer von der Autorin zuvor publizierten Schrift "Zur Reaktion von Frauen auf antifeministische Topoi". Ein informatives, sehr gut lesbares - ein kluges Buch.




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