Bernd-Ulrich Hergemöller:
Einführung in die Historiographie der Homosexualitäten

Tübingen: Edition diskord 1999, 192 S., 28 DM

Rezension von Claudia Schoppmann, Berlin

Erschienen in Invertito 2 (2000)

"Als ich mein Studium aufnahm - im Wintersemester 1968/69 -, gab es im gesamten Historischen Seminar der Universität Münster kein einziges Buch zur Geschichte der Homosexualitäten", schreibt Bernd-Ulrich Hergemöller zu Beginn seiner Einführung in die Historiographie der Homosexualitäten.

Heute, 30 Jahre später, ist es um die einschlägige Literatur erfreulicherweise besser bestellt (auch wenn dies noch keine Rückschlüsse auf den derzeitigen Bestand in der Münsteraner Bibliothek erlaubt). Hergemöller konstatiert gar einen regelrechten Boom von sexualhistorischen Arbeiten, der sich allerdings vor allem auf die internationale Literatur beziehe, die nach wie vor den aktuellen Stand der homo studies und der Theoriedebatten bestimmt.

Der Autor hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen Überblick über die Forschungsliteratur zur männlichen und weiblichen Homosexualität und - nebenbei - deren Seriosität als Forschungsgegenstand zu vermitteln. Dies ist um so notwendiger, da die deutschsprachige Geschichtswissenschaft, anders als in westeuropäischen Ländern oder den USA, weit davon entfernt ist, Homosexualität "als gleichberechtigten und notwendigen Bestandteil des Wissenschaftskanons wahrzunehmen, zu akzeptieren und zu institutionalisieren". Dies spiegelt sich auch in den Fachorganen wider: So "wagte" die ehrwürdige Historische Zeitschrift es erst 1998, den Tabubegriff Homosexualität explizit in einem Titel zu berücksichtigen.

In regionaler Hinsicht bezieht sich Hergemöller auf das Gebiet des heutigen deutschen Sprachraums, auf Mittel-, Nord-, West- und Südeuropa sowie die USA. Und obwohl er sich im wesentlichen auf Literatur aus den genannten Ländern (bzw. deren Sprachen) beschränkt, ist diese schon kaum mehr überschaubar: die Bibliographie im Anhang umfast rund 640 Titel (Monographien, Sammelbände, Quelleneditionen, Handbücher und Aufsätze); dabei entfallen allein 29 Bücher und Aufsätze - inkl. eines Leserbriefs - auf den sehr produktiven Autor.

In thematischer Hinsicht stehen historisch-kritische, empirische, quellengestützte Forschungen einschließlich der dort rezipierten Theorie- und Methodendiskussion im Vordergrund. Diese sind meist, aber keineswegs ausschließlich der Geschichtswissenschaft zuzuordnen; häufig sind die Arbeiten interdisziplinär angelegt und beziehen benachbarte Disziplinen wie Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Rechtsgeschichte oder Medizin mit ein.

In zeitlicher Hinsicht legt Hergemöller, der seit 1996 Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg ist, den Schwerpunkt auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit (16. -18. Jh.). Dem folgen Abschnitte über das 19. Jahrhundert, die frühe Emanzipationsbewegung, die Weimarer Republik, das NS-Regime und die Nachkriegszeit (BRD und DDR), um in der Gegenwart der "Berliner Republik" zu enden.

Die Pluralbildung des Bandes - Homosexualitäten - hat der Autor bewusst gewählt.

Zum einen, um auf die unterschiedlichen Fremd- und Selbstbilder gleichgeschlechtlich liebender Männer einerseits und Frauen andererseits aufmerksam zu machen. Zum andern, um bereits auf der sprachlichen Ebene anzudeuten, dass es sich bei "Homosexualität" - und dies gilt ebenso für "Heterosexualität" - nicht um ein unveränderliches, ahistorisches Phänomen handelt, sondern um unterschiedliche, von Zeit und Raum und den jeweiligen Individuen abhängige Konzepte und Konstruktionen gleichgeschlechtlichen Verhaltens.

Die aktuelle wissenschaftliche Geschichtsschreibung der Homosexualitäten in Deutschland sieht Hergemöller durch vier Ansätze beeinflusst.

1. "Emanzipationsväter". In der Frühphase, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, versuchten Hirschfeld u.a., die Identität und das Selbstwertgefühl des "Dritten Geschlechts" durch historische Forschung über "berühmte Homosexuelle" in der Vergangenheit (z.B. Friedrich II., Christine von Schweden) zu stärken und die landläufige Meinung von den Homosexellen als geistig krank, körperlich defizient und sozial schädlich zu entkräften. (Dem heutigen "Outen" Prominenter liegen teilweise ähnliche Motive zugrunde.)

2. Frauengeschichte. Die in den 70er Jahren entstehende feministisch geprägte Frauenforschung, die sich inzwischen zur Geschlechterforschung erweitert hat, hinterfragte scheinbar neutrale Kollektivbegriffe wie "der Mensch" und nicht zuletzt die übliche Epocheneinteilung. Inzwischen werden Kategorien wie Klasse, Ethnie und Geschlecht in der Forschung zunehmend berücksichtigt. Historikerinnen, die sich ab etwa 1980 mit der Geschichte - oder besser: den Geschichten - lesbischer Frauen beschäftigten, bilden allerdings nach wie vor eine Minderheit, und sie sind häufig damit konfrontiert, dass Heterosexualität als selbstverständliches und somit unreflektiertes Merkmal des Individuums stillschweigend vorausgesetzt wird.

3. Postmoderne. Foucault begründete mit seinem Buch Der Wille zum Wissen (1975) einen Paradigmenwechsel und forderte zur Dekonstruktion linearer Geschichtsmodelle und zur Diskursanalyse, d.h. zum Hinterfragen scheinbar objektiver Gegebenheiten heraus.

4. "Geschichte von unten". Im Zuge der Alltagsgeschichtsschreibung, die in den 80er Jahren zunehmend populär wurde, bildeten sich vor allem private Initiativen, die sich - als engagierte Laien oder HistorikerInnen - auf lokaler Ebene mit Aspekten schwuler oder lesbischer Geschichte beschäftigten und beispielsweise biographische Interviews mit ZeitzeugInnen durchführten (z.B. Lesbenarchiv "Spinnboden" oder Schwules Museum, beide Berlin).

Dem Autor gelingt es, die international geführten Methoden- und Theoriediskussionen der letzten 10-20 Jahre, die auch die einschlägige Forschung beeinflussten bzw. prägten, anschaulich zusammenzufassen: Etwa die Foucault-Rezeption und -Kritik oder die Essentialismus-versus-Konstruktivismus-Debatte, also die Auseinandersetzung darüber, inwieweit Homosexualität ein zeit- und kulturabhängiges Phänomen darstellt oder ob von einer mehr oder weniger konstanten Identität gesprochen werden kann. Ferner geht Hergemöller auf die feministische Kritik ein, die die Dichotomie der Geschlechter in Frage stellte und eine Differenzierung zwischen sex (= biologischem) und gender (= sozialem Geschlecht) forderte. Weitergeführt wurde dies u.a. von Judith Butler, die auch die scheinbar natürliche, biologisch-anatomische Dimension von sex in den Prozess der Dekonstruktion einbezog. Weiter widmet sich Hergemöller den Einzelabschnitten - und kommt u.a. zu dem kaum überraschenden Ergebnis, dass es nach wie vor an Studien zu verschiedenen Epochen und Fragestellungen fehlt (etwa zum 19. Jh. vor der Reichsgründung). Hinzu kommt, dass meist keine kritischen Quelleneditionen vorliegen, was die Aufarbeitung zusätzlich erschwert.

Besonders im Mittelalter-Kapitel, aber nicht nur hier, wird deutlich, dass Homosexualität ein moderner Kunstbegriff des 19. Jahrhunderts ist (auf diese Epoche sowie auf die Frühe Neuzeit bezieht sich auch ein Großteil der Bibliographie). Nichtsdestotrotz scheint es gleichgeschlechtliche Handlungen quer durch die Jahrhunderte und Kulturen gegeben zu haben. Auch wurden gleichgeschlechtliche Handlungen immer wieder - von Staats wegen oder anderweitig - verfolgt. Im Mittelalter etwa - häufig genug mit tödlichen Folgen - als "stumme Sünde" und Sodomie (was alle sexuellen, nicht generativen Betätigungen umfasste). Nur langsam, und einhergehend mit dem zunehmenden Einfluss der Medizin und der Herausbildung der Sexualwissenschaft, lösten sich die Vorstellungen von der Homosexualität als Sünde vom Einfluss der Kirche und Religion - um nun die gleichgeschlechtlich Liebenden zu Kranken abzustempeln, die es zu "behandeln" galt.

Hergemöller kritisiert, dass etwa bei den Darstellungen über die frühe Emanzipationsbewegung der Anteil und die Beteiligung der Frauen an dieser Bewegung, also bspw. im Wissenschaftlich-humanitären Komitee oder im Institut für Sexualwissenschaft, im allgemeinen nicht hinreichend berücksichtigt werde. Dieser Befund trifft in ähnlicher Weise auch auf die Weimarer Zeit, das NS-Regime und die Nachkriegszeit zu (und beschränkt sich auch nicht auf die deutsche Historiographie). Wie etwa in der Ausstellung "Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung" (1997) zu sehen war, wird die Geschichte homosexueller Männer häufig isoliert dargestellt, ohne die vorhandenen Bezüge zu lesbischen Frauen - oder ggf. die Gründe für ihre Abwesenheit - zu thematisieren.

Darüber hinaus fehlt es in vielen Bereichen an spezifischen Studien zur Frauenliebe. Dies hat - neben der mangelnden Institutionalisierung dieser Forschung - verschiedene Ursachen: Gleichgeschlechtliche Handlungen wurden - ob sie nun als Sünde oder Krankheit galten - danach beurteilt, ob sie von einem Mann oder einer Frau ausgeübt wurden. Frauen, die Frauen lieben, wurden nicht im selben Umfang und auf dieselbe Weise von Staat und Gesellschaft wahrgenommen (und verfolgt) wie Männer. Die Spurensuche und die Rekonstruktion dieser Geschichten ist deshalb sehr schwierig, denn es gibt nur relativ wenige Quellen aus der Sicht der Verfolgungsbehörden (bspw. kein §175 oder rosa Winkel als Suchkriterium). Darüber hinaus besaßen die betreffenden Frauen nur in seltenen Fällen die Ausbildung und die ökonomischen Möglichkeiten, um sich schriftlich zu äußern bzw. an die Öffentlichkeit zu wenden - und damit Quellen für die Nachwelt zu produzieren. Um dieser Tatsache - der geschlechtsspezifischen Beurteilung der Homosexualität - gerecht werden zu können, ist die Einbeziehung des Geschlechterverhältnisses in der jeweiligen Kultur und Epoche m.E. unerlässlich.

Außerdem wird in vielen Studien häufig geschlechtsneutral von Homosexuellen gesprochen - was Männer und Frauen impliziert. Konkret ist dann aber ausschließlich von Männern die Rede, was die "Unsichtbarkeit" der weiblichen Homosexualität im öffentlichen Diskurs weiter fortsetzt. Zumindest eine Differenzierung auf der sprachlichen Ebene sollte in Zukunft als Mindeststandard eingehalten werden.

Die Defizite in puncto Lesbenforschung werden in Hergemöllers Darstellung zusätzlich jedoch dadurch verschlimmert, dass er vorhandene Arbeiten nicht erwähnt (dies gilt zumindest fürs 20. Jh.). Um nur wenige Beispiele zu nennen, wobei ich mich auf Monographien und Anthologien beschränke und Aufsätze außer Acht lasse:

Lilian Faderman: Odd girls and twilight lovers. A history of lesbian life in twentieth-century America, 1991; Judith Schuyf: Een stilzwijgende samenzwering. Lesbische vrouwen in Nederland, 1920-1970, 1994; Christina Karstädt/Anette von Zitzewitz: viel zuviel verschwiegen (über Lesben in der DDR), 1996; Beemyn, Brett: Creating a place for ourselves, 1997; Doan, Laura: The lesbian Postmodern, 1994; Kokula, Ilse: Die Welt gehört uns doch! Zusammenschluß lesbischer Frauen in der Schweiz der 30er Jahre, 1991; Dies.: Weibliche Homosexualität um 1900 in zeitgenössischen Dokumenten, 1981; Madeleine Marti u.a.: Querfeldein. Beiträge zur Lesbenforschung, 1994 (Dokumentation des 2. Symposiums deutschsprachiger Lesbenforschung; das 5. Symposium findet in diesem Herbst in Bielefeld statt).

Und da Hergemöller besonders das Defizit an feministischer Forschung zum Nationalsozialismus beklagt: drei Bücher der Rezensentin zu diesem Thema werden namentlich nicht erwähnt, von einigen Aufsätzen zu schweigen.

Seinem eigenen Anspruch, die Homosexualitäten gleichrangig darstellen zu wollen - der für ähnliche Publikationen richtungsweisend sein sollte -, wird Bernd-Ulrich Hergemöller also nicht (immer) gerecht. Schade, denn dieses Manko hätte vermieden werden können. So erweisen sich Abschnitte mit Überschriften wie "Schwulen- und Lesbenbewegung" als Mogelpackung, d.h. als schwule Geschichte mit lesbischen Fußnoten.

Aber auch in anderen Bereichen, in denen der Autor Forschungsdefizite benennt, lässt er wichtige Veröffentlichungen ungenannt. Dies trifft etwa auf den Abschnitt über Homosexuellenverfolgung in den besetzten Gebieten während der NS-Zeit zu (S. 114f.). Auch wenn es bislang in der Tat keine zusammenfassende Untersuchung zu diesem Thema gibt: Bereits 1983 erschien Pieter Koenders Studie Homoseksualiteit in bezet Nederland, während Pierre Seel in seinem bewegenden autobiographischen Bericht von 1996 wichtige Hinweise auf die Situation in Frankreich gibt (Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen). Und mit Verbotene Verhältnisse. Frauenliebe 1938-1945 legte die Rezensentin 1999 eine Studie über Österreich vor, in der neben exemplarischen Strafverfahren auch der juristisch-historische Kontext, vor allem nach dem "Anschluß" 1938, skizziert wird.

Trotz dieser Einschränkungen ist die Einführung eine wichtige Arbeitshilfe. Sie enthält im Anhang auch einige Quellen aus dem 13. bis 20. Jahrhundert, deren Auswahl jedoch nicht erläutert wird. Leider fehlt auch ein Personenregister, was den Wert als Nachschlagewerk mindert.




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