Gerd Wilhelm Grauvogel:
Theodor von Wächter. Christ und Sozialdemokrat.

Ein soziales Gewissen in kirchlichen und gesellschaftlichen Konflikten, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1994, 351 S., 88 DM

Rezension von Rainer Hering, Hamburg

Erschienen in Invertito 1 (1999)

Das Thema Homosexualität ist in den Kirchen noch heute heftig umstritten. Männer und Frauen, die sich zu ihrer Homosexualität bekennen, finden mittlerweile aber einen gewissen Toleranzrahmen, in dem sie wirken können und akzeptiert werden. Im Kaiserreich sah das noch ganz anders aus. Dass auch schon vor hundert Jahren Theologen ihre Homosexualität öffentlich machten, ist eine Ausnahme, die nur wenig bekannt ist. Wenn die Person dann auch noch politisch aktiv in der SPD tätig war, setzte eine mehrfache Ausgrenzung ein.

Einer, der seine Homosexualität offen legte und der als Theologe Sozialdemokrat und als Sozialdemokrat Theologe war, ist heute fast ganz vergessen: Theodor von Wächter (1865-1943). Es ist der Saarbrücker Dissertation von Gerd Wilhelm Grauvogel zu verdanken, dass eine umfassende theologisch-politische Biographie vorliegt, die Wächter angemessen würdigt und diese interessante Persönlichkeit für die Forschung zugänglich macht.

Von Wächter studierte evangelische Theologie und legte 1888 und 1891 die beiden theologischen Examina ab. Als erster deutscher Theologe trat er 1891 der SPD bei und kandidierte – erfolglos – für den Reichstag. Daraufhin strich das württembergische Konsistorium den beurlaubten Predigtamtskandidaten 1893 von seiner Liste und verbaute ihm damit die berufliche Zukunft als Pastor. Wächter arbeitete fortan als Publizist, gab ein Wochenblatt heraus und widmete sich der Parteiarbeit. Kennzeichnend für ihn waren sein hochgesteckter sittlicher Idealismus, seine humane Gesinnung und seine persönliche Opferbereitschaft.

Seine politische Karriere endete 1895 abrupt, als er sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekannte: Er musste die SPD verlassen. August Bebel setzte sich zwar nach außen hin für die Emanzipation der Homosexuellen ein und unterstützte im Reichstag 1898 die Petition des Wissenschaftlich-humanitären Komitees zur Abschaffung der strafrechtlichen Verfolgung Homosexueller, in seiner eigenen Partei wollte er drei Jahre zuvor solche "Elemente" aber nicht dulden (S. 190).

Während eines längeren Italienaufenthalts lernte Theodor von Wächter, gerade auch durch das Studium der griechischen Antike, seine homophilen Gefühle zu akzeptieren, und konnte sich in Italien sogar öffentlich zu ihnen bekennen. 1899 publizierte er das Buch Die Liebe als körperlich-seelische Kraftübertragung. Eine psychologisch-ethische Studie, in dem er rückhaltlos seine Sexualität offen legte. Sein Coming-out war für ihn in erster Linie ein moralisches Problem – doch musste er seine sittlichen, religiösen und politischen Überzeugungen mit seinen sexuellen Neigungen in Einklang bringen, ethisch reflektieren und im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang darstellen. Homosexualität war für ihn weder pathologisch-naturwidrig noch unsittlich. Da sich seine Position vor allem in der Praxis als ethisch erweisen sollte, wies er der sozialen Frage zentrale Bedeutung zu. In Rom gründete er einen "Verein für praktische Hilfstätigkeit", dessen Brotversicherung für hungernde alte Männer besonders erfolgreich gewesen sein soll. Von Wächters Buch wurde von Magnus Hirschfeld (1868-1935) im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen ausführlich und wohlwollend besprochen. Er habe neue Gesichtspunkte zur Beurteilung der Homosexualität in die Diskussion eingebracht.

Völlig mittellos schlug sich Theodor von Wächter in Italien als Sprachlehrer durch. 1909 wurde er Leiter des deutschen Künstlerhauses "Villa Romana" in Florenz – sechs Jahre später zwang ihn der Kriegseintritt Italiens an der Seite der Alliierten zur Rückkehr nach Deutschland, wo er bis zu seinem Tode 1943 als Sprachlehrer und Publizist arbeitete. Wieder setzte er sich für die Interessen der sozial Unterprivilegierten ein, blieb in der Öffentlichkeit aber weitgehend unbeachtet. Während der Weimarer Republik gehörte er der KPD an. 1943 starb Theodor von Wächter in der psychiatrischen Abteilung des Stuttgarter Bürgerhospitals.

Grauvogel schildert gut lesbar Herkunft, Werdegang und das theologische sowie politische Denken von Wächters, wobei er einen Schwerpunkt auf die Zeit seines öffentlichen Wirkens in den Jahren 1893 bis 1896 legt. Die Biographie wird eingebettet in eine systematische Darstellung des theologischen und sozialgeschichtlichen Hintergrunds.

Von Wächter setzte sich für die Akzeptanz des christlichen Glaubens innerhalb der SPD und für die kirchliche Anerkennung der Sozialdemokratie als politisch und weltanschaulich legitime Größe ein. Damit und durch seine offen gelegte Homosexualität geriet er zwischen alle Fronten und wurde zur unerwünschten Person erklärt. Doch sein äußerliches Scheitern ließ ihn nicht an der Wahrheit seiner Ziele zweifeln: Theodor von Wächter erstrebte soziale Gerechtigkeit, materielle Wohlfahrt, politische und geistig-religiöse Freiheit für alle Menschen unabhängig von ihrer Sexualität. Den Schlüssel zur Lösung des gesellschaftlichen Elends sah er in der marxistischen Gesellschafts? und Geschichtsanalyse, die ihn in die SPD und später in die KPD führte. Dabei verzichtete er völlig auf eigenes Wohlergehen, so dass er weitgehend in sehr einfachen Verhältnissen leben musste. Gerd Wilhelm Grauvogel hat eine spannend zu lesende Biographie eines ausgesprochen interessanten Werdeganges vorgelegt und vor dem Vergessen bewahrt.




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