Drei Neuerscheinungen von Harry Kuster

Rezension von Bernd-Ulrich Hergemöller, Hamburg

Erschienen in Invertito 1 (1999)

Der 1951 in Amsterdam geborene Historiker Harry Kuster (d.i.: Hendrikus Johannes Kuster), der 1977 mit einer protagonistischen Dissertation über die mittelalterliche Homosexualität promoviert wurde, hat in den letzten drei Jahren drei neue Veröffentlichungen vorgelegt.

 

Kuster, Harry: De wil tot liefhebben. Beschouwingen over geschiedsfilosofie, narcisme en knapenliefde, 2 Bde, Veenendaal (NL): Selbstverlag 1997, 214 S. (ISBN: 90-9010318-X)

Mit dem zweibändigen Werk, das übersetzt etwa "Der Wille zum Liebhaben. Betrachtungen über Geschichtsphilosophie, Narzißmus und Knabenliebe" lautet, hat Kuster eine Monographie geschaffen, die als Versuch gelesen werden kann, das umstrittene "Toleranzbuch" John Boswells (Christianity, social tolerance and homosexuality, 1980) auf eine völlig neue Grundlage zu stellen. Er entrollt (darin Boswell ähnlich) ein beeindruckend breites und sachkundiges Panorama der mittelalterlichen Sexualtheorie unter besonderer Berücksichtigung der hochscholastischen Anthropologie Thomas' von Aquin sowie unter Bezugnahme auf circa 50 Beispiele der mittelalterlichen Freundschaftsbriefe, die im zweiten Band in lateinischer Originalform und niederländischer Übertragung wiedergegeben werden. Andreas Capellanus, der Verfasser des philosophisch-zeitkritischen Traktats De Amore (Ende 12. Jh.), sowie der Troubadour Bernart de Ventadorn, die in unterschiedlicher Form das Streben des Herzens nach personaler Liebe in den Vordergrund ihres Denkens stellen, werden als sachliche Zeugen für den Liebeswillen zitiert (S. 86f.). Dieser "Wille" (hier weicht Kuster vom wörtlichen Sprachgebrauch der Quellen ab!) wird mit Schopenhauer und Freud als Teil des latent Unbewussten (S. 107), als historisches Apriori und als Vorbedingung für Sexualität (S. 111) angesehen. Den langen Marsch durch das "Theatrum Mundi", der kaum einen Literaten, Dichter und Theologen des Mittelalters außer Acht lässt, beendet Kuster mit der These (genauer: mit der Behauptung), dass die "knapenliefde" nicht als eine eigenständige Kategorie, sondern als Teilbereich der männlichen Homosexualität anzusehen sei: "Ich betrachte Knabenliebe hauptsächlich als eine Spezifizierung, als eine Variante, als einen Aspekt der männlichen Homosexualität [...]" (S. 164, Übersetzung: Hergemöller). Diese Überlegungen verbindet Kuster nun (als erster) mit der Freudschen Narzissmustheorie: Ein Knabengedicht Raimbauds d'Orange, das die Tiefendimension des Verlangens mit der sich selbst verzehrenden Gestalt des griechischen Mythos' gleichsetzt, bildet die Brücke zwischen Mittelalter und Freud. Jünglingsliebe sei demnach als ein mögliches Produkt der gleichgeschlechtlichen, narzisstischen Objektwahl anzusehen. Der Ältere tritt damit in eine Liebesbeziehung zu einem Jüngeren ein, ohne die Möglichkeit tiefer (meist zeitversetzter) Verbindungen zu Frauen auszuschließen (S. 123). Wenngleich sich Kuster vor einer unmittelbaren Übernahme Freuds hütet, lässt er keinen Zweifel an seiner Begeisterung für die Wiener Psychoanalyse. Daher wird das Buch nur bei denjenigen auf einhellige Zustimmung stoßen, die die theoretischen Voraussetzungen und Folgerungen Kusters teilen. Allen anderen, die sich lieber auf dem Terrain aktueller Theorien bewegen und vor der Übernahme ahistorischer anthropologischer Kategorien warnen, sei empfohlen, sich auf die Interpretation der Liebesgedichte und der anderen Quellen zu konzentrieren und sich der Mühe zu unterziehen, sich ein wenig in die niederländische Sprache zu vertiefen. Eine Übersetzung in andere Sprachen, die im Prinzip außerordentlich wünschenswert wäre, hätte m.E. nur Sinn, wenn sich der Verfasser dazu verstehen könnte, die Wiedergabe der von ihm favorisierten Theorien (Schopenhauer, Freud) radikal zu verkürzen und sich stärker auf die aktuelle theoretische Debatte über die Historiographie der Homosexualität zu konzentrieren.

 

Kuster, Harry: Vriendschapsminne in twaalfde-eeuws perspectief, Wageningen (NL): Uitgeverij-Antiquariaat Leida 1999, 45 S. (ISBN: 90-70518279)

In diesem kleinen, anschaulich und allgemein verständlich formulierten Heftchen stellt Kuster einige Hauptvertreter der hochmittelalterlichen Freundschaftsdichtung wie Aelred von Rievaulx (gest. um 1166/67), Guibert de Nogent, Petrus de Celle, Bernhard von Clairvaux und Anselm von Canterbury vor. Er schildert die zeitgenössischen Konflikte, die zwischen diesen Jünglingsfreunden und den Reformtheologen ausgetragen wurden, und er erläutert (auch graphisch) die Konzeption der hochmittelalterlichen "amicitia": Freundschaft, Liebe und Sexualität seien als drei unterschiedene Pole menschlicher Existenz angesehen worden, die in Form spiritueller Reinigung (purificatio) auf das oberste Ziel ihrer Bestimmung und Erfüllung, auf Gott, ausgerichtet worden seien.

 

Kuster, Harry: Eros in het Avondland. Werkelijkheid van gelijkgeslachtelijke liefde. Een bibliografie, Veenendaal (NL): Selbstverlag 1999, 217 S.(ISBN: 90-804521-1-4)

Die Bibliographie erhebt, wie der Titel "Eros im Abendland. Wirklichkeit der gleichgeschlechtlichen Liebe" andeutet, den Anspruch, einen umfassenden Überblick über alle Werke von der klassischen Antike bis zur Gegenwart (1998), die die gleichgeschlechtliche Liebe und Sexualität thematisieren, zu vermitteln. Im Vorwort wird jedoch deutlich, dass dieses Verzeichnis primär nach den Bedürfnissen des erstgenannten Werkes ausgerichtet ist, so dass es zahlreiche antike Autoren, zeitgenössische Psychiater, Philosophen und TheoretikerInnen enthält, die zwar in Beziehung zu den theoretischen Reflexionen Kusters stehen, aber keine unmittelbare Bedeutung für die aktuelle Homosexualitätenforschung besitzen. Was auf der einen Seite zu viel, ist auf der anderen Seite zu wenig. So weist das Werk empfindliche Lücken auf. Eine Stichpunktprobe zu einem beliebigen Buchstaben, 'L', zeigt, dass wichtige Titel wie Christopher Lane (Ruling passion, 1995), Hans Christian Lassen (im Sammelband Für Führer, Volk und Vaterland, Hamburg 1992), Rüdiger Lautmann (zwei wichtige Aufsätze), Gertrud Lehnert (Wenn Frauen Männerkleider tragen, 1997), Rolf Lenzen (Sodomitenschelte[...], in: Arbor Amoenis Comis, 1990), Jacques Le Rider (Weininger, 1985), Lila Wien um 1900 (mit Hanna Hacker u.a., 1986), Emmanuel Le Roy La Durie (Montaillou), Eve Levin (Sex and society in the world of the orthodox slavs, 1989), Jonas Liliequist (Peasants against nature), Sven Limbeck (Aufsatz im Sammelband zu Edmund von Eynsham, 1998) oder Kate Lowe (sowie ihr Mit-Herausgeber Trevor Dean, 1994) fehlen. Der Informationsgehalt der bibliographischen Belege leidet zudem darunter, dass Kuster statt vollständiger Vornamen nur die Anfangsbuchstaben mitteilt sowie auf die Aufnahme der Verlage (inzwischen im internationalen Bereich gang und gäbe) verzichtet. Das Zeitschriftenverzeichnis bietet 293 Titel, allerdings ohne Ersterscheinungsjahre, HerausgeberInnen und Untertitel, so dass es nur als Stichwortsammlung zu benutzen ist. Trotz dieser Einschränkungen kann das vorliegende Werk als derzeit wichtigste und umfangreichste Bibliographie zur Historiographie und Theorie der Homosexualitäten zur Anschaffung und Lektüre empfohlen werden.




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