Bernd-Ulrich Hergemöller:
Mann für Mann.

Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität im deutschen Sprachraum, Hamburg: MännerschwarmSkript Verlag 1998, 911 S., 168 DM

Rezension von Wolfgang Schmale, Wien

Erschienen in Invertito 1 (1999)

Zwanzig Jahre lang hat Hergemöller Material gesammelt und geprüft. Herausgekommen ist ein biographisches Lexikon mit über 1.000 Artikeln, die Hergemöller als Alleinautor verfasst hat. Vorangestellt ist eine substantielle Einleitung, in der die mit dem Lexikon verfolgten Ziele sowie die Auswahlkriterien für die biographischen Einträge ausführlich erläutert sind.

Der durch das Lexikon abgedeckte Interessensbereich wird durch die beiden Begriffe "Freundesliebe" und "mannmännliche Sexualität" beschrieben: "Der Untertitel 'Freundesliebe' und 'mannmännliche Sexualität' soll [...] die Spannbreite verdeutlichen, die den Bereich dieser Darstellungen umfasst. Wir wollen den im 19. Jahrhundert entwickelten, missverständlichen und heute antiquiert wirkenden Begriff 'Homosexualität' durch die erklärende Umschreibung 'mannmännliche Sexualität' ersetzen, um uns einerseits vom Theoriesyndrom des 'dritten Geschlechts' zu lösen und um andererseits zu verdeutlichen, daß die Sexualität, verstanden als Einheit von Genitalität und Körperlust, in die Konzeption wissenschaftlich-biographischer Zusammenhänge integriert werden kann, wenn sie quellenkritisch zur Darstellung gebracht wird." (S. 12) Der Begriff 'Freundesliebe" soll auf die "qualitative Differenz zwischen 'Freundschaft' und 'Freundesliebe' (im gleichgeschlechtlichen Kontext)" verweisen, er bezieht ausdrücklich die Adoleszenzphase mit ein. (S. 12)

Die Erarbeitung der Biographien nach historisch-kritischen Methoden dient zum einen der Revision der seit gut einhundert Jahren immer wieder neu vorgelegten biographischen Listen und Skizzen insbesondere "berühmter Homosexueller", die häufig im wissenschaftlichen Sinn unkritisch erstellt worden sind. Bestimmte, dort immer wieder genannte Namen, wird man bei Hergemöller nicht (mehr) finden, z.B. nicht den Dichter Goethe, aber seinen Enkel Walther von Goethe. Auf der anderen Seite hat Hergemöller dafür viele bisher nicht beachtete Männer aufgenommen. Als Mittelalterhistoriker, der sich ausführlich mit mannmännlicher Sexualität im Mittelalter und deren Verfolgung auseinandergesetzt hat, war er geradezu berufen, die übliche biographische Schwelle des 19. Jahrhundert nach hinten durchbrechen. Was heute niemandem mehr unbekannt sein braucht, dass "sich die mannmännliche Liebe und Sexualität wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte der Menschheit zieht" (S. 12), wird damit biographisch im von Hergemöller selbst gesteckten Rahmen bestens dokumentiert.

Die Rahmenkriterien waren nicht die Menschheitsgeschichte sondern Herkunft oder Lebensmittelpunkt (Beispiel: Erasmus von Rotterdam) im deutschsprachigen Raum, "abgeschlossenes Leben", d.h. noch lebende Personen wurden nicht aufgenommen, und "profilierte soziale Rolle". Eine ausgesprochene Definition des letzteren Kriteriums gibt der Verfasser nicht, aber er richtet sich explizit gegen die oft nur impliziten Auswahlkriterien gängiger biographischer Lexika, wo "das Schwergewicht auf ein bestimmtes Männerbild [...], auf das Bild des heterosexuellen, politisch agierenden, ökonomisch produktiven und aufsehenerregenden [...] Manns" gelegt werde. (S. 27) Hergemöller kritisiert an Lexika wie der Neuen Deutschen Biographie, dass sie generell schwule Männer ignorieren oder die "Grundneigung zum eigenen Geschlecht" in der Biographie unterdrücken bzw. diese Männer zu Heterosexuellen umdeuten. Das vom Verfasser festgelegte Spektrum zwischen Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität eröffnet die Möglichkeit, auf differenzierte statt pauschale sexuelle Kategorien zurückzugreifen. Hergemöller hat die Grundlage hierzu in begriffsgeschichtlichen, oder sagen wir: bezeichnungs- und namensgebungsgeschichtlichen Forschungen gelegt, die er in der Einleitung knapp zusammenfasst.

Das Kriterium der "profilierten sozialen Rolle" erhellt sich letztlich aus der statistischen Erfassung der gesammelten Biographien. Es bilden sich vier Großgruppen heraus: Literaten; Künstler, Wissenschaftler; Politik und Gesellschaft; Täter und Opfer. Diese Gruppen werden genauer differenziert (S. 27 ff.). Wenn dies auf den ersten Blick wie eine Bestätigung des weitverbreiteten Stereotyps erscheint, dass besonders viele Literaten, Künstler usw. schwul gewesen seien, wendet Hergemöller dagegen ein: "Es könnte sich die These bewahrheiten, daß das strafbewehrte Klima der Repression und Verfolgung die besonders Bedrohten vermehrt in die 'freien Berufe' und 'brotlosen Künste' getrieben haben könnte. Nicht die angeblich angeborene Neigung der 'Schwulen' zu Kunst und Freisinn, sondern der nachhaltige Zwang zum Ausweichen in die nichtstaatlichen Berufe könnte den überproportional hohen Anteil erklären, den die (prominenten) Homosexuellen unter den Schriftstellern und Lyrikern, Künstlern und Musikern oder unter der 'frei flottierenden Intelligenz' einnehmen." (S. 19) Damit ist ein lohnendes Forschungsfeld angesprochen.

Die über 1.000 biographischen Artikel verteilen sich auf zwei Typen: 430 bieten vollständige Biographien, ca. 600 enthalten Kurzbiographien. Vollständigkeit bzw. Kürze resultieren allein aus der Dichte resp. Lückenhaftigkeit des Quellenmaterials. Nur vage, nicht verifizierbare Hinweise hätten zur Nichtaufnahme geführt: Allerdings sollten die Kurzbiographien trotz aller Einschränkungen, die der Verfasser selbst macht, noch einmal einer strikten Revision unterzogen werden. Artikel wie jener über "Heinricus Jocundus" (nachgewiesen im Jahr 1414) lassen die Frage nach ihrer Sinnhaftigkeit entstehen: Zwar hat der Verfasser deutlich erklärt, warum er auch solche Männer aufgenommen hat, über die Informationen nur aufgrund von Denunziationen vorliegen, deren Wahrheitsgehalt nicht mehr nachprüfbar ist, aber welche Erkenntnis wird befördert, wenn, wie im Fall des Heinricus Jocundus (S. 338) der berichtete Unzuchtsvorwurf überhaupt nicht hinsichtlich mannmännlicher Sexualität spezifiziert werden kann, wenn der Artikel keinerlei Hinweis darauf enthält (aufgrund der Quellen offensichtlich auch nicht enthalten kann), ob der mit H.J. umherziehende zweite Mann, der sich Johannes Liber nannte, wenigstens unter den Begriff der Freundesliebe gefasst werden kann? Hergemöller wird diesem Einwand mit dem Hinweis auf die Charakterisierung seines Lexikons als "work in progress" (S. 48) begegnen – was als Argument nicht von der Hand zu weisen ist. Die infrage kommenden Quellentypen (Ego-Dokumente/Fremd-Dokumente; das entspricht den beiden Fundamentalperspektiven der Selbst- bzw. Fremdwahrnehmung) sind detailliert aufgeschlüsselt (S. 36-44).

Zwischen Einleitung und Lexikon sind das Abkürzungs- und Siglenverzeichnis, das Literaturverzeichnis und "Hinweise zur formalen Gestaltung" geschaltet. Der Lexikonteil ist alphabetisch aufgebaut, den vollständigen Biographien ist immer ein kurzes Zitat/Motto (Begründung S. 44) vorangestellt, sie enthalten möglichst ausführliche Angaben zur Familie und zur Verwandtschaft, zur Adoleszenzphase, zum privaten Beziehungsgeflecht.

Den meisten LeserInnen wird es wie dem Rezensenten gehen: Das Lexikon ist kein Lexikon, zu dem erst gegriffen wird, wenn zu einem Namen biographische Informationen gesucht werden, sondern es handelt sich um ein Buch, das, einmal geöffnet, die Leserin, den Leser bei der Lektüre festhält. Der volle Wert des Werks erschließt sich allerdings nur denen, die sich in der Tat die Mühe der Einleitung machen!

Auf die biographischen Artikel (hier irgendwelche herauszugreifen, wäre willkürlich. Tip: selber lesen!) folgen ein Register der Artikel in chronologischer Abfolge sowie ein alphabetisches Register aller genannten Männer; zum Schluss die Selbstbiographie des Autors, nach den von ihm aufgestellten Kriterien.

Hergemöllers Sinn für Genauigkeit und Nachprüfbarkeit sind beispielhaft. Er fordert zu konstruktiver Kritik und "aussagekräftigen Anregungen" auf. Sei’s drum: Das Lexikon füllt nicht nur eine Lücke, sondern kann als Zeuge einer neuen Generation biographischer Lexika gelten.




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