Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten

Eine neue Zeitschrift stellt sich vor

Liebe Leserinnen und Leser!

Vor Ihnen liegt das erste Heft der neuen Zeitschrift Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten! Invertito möchte sich der historischen Erforschung weiblicher und männlicher gleichgeschlechtlicher Liebe, Erotik und Sexualität widmen und damit eine empfindliche Lücke in der deutschsprachigen Wissenschaftspublizistik schließen. Das Jahrbuch wird vom Fachverband Homosexualität und Geschichte e.V. herausgegeben, dessen Mitglieder sich zumeist bereits seit Jahren im Rahmen der Dokumentations-, Museums- und Fachverbandsarbeit engagiert haben. Es steht nicht nur Mitgliedern des Vereins offen, sondern allen, die der Historie der Homosexualitäten nachspüren und die Schwierigkeiten kennen, die vor allem jüngeren und nicht universitär gebundenen WissenschaftlerInnen bereitet werden, die versuchen, sich mit dieser Thematik an die geschichtswissenschaftlichen Fachorgane zu wenden. Invertito lädt etablierte WissenschaftlerInnen und Hochschullehrende ebenso zur Mitarbeit ein wie Studierende, gerade erst Examinierte und semiprofessionelle sowie nicht akademische ForscherInnen. Alle Texte sollen sowohl wissenschaftlichen Ansprüchen genügen als auch für interessierte Nicht-WissenschaftlerInnen lesbar sein. Jeder Band enthält etwa drei Aufsätze zu einem Schwerpunktthema. Hinzu kommen kleinere Beiträge, ausgewählte Buchbesprechungen, Hinweise auf Neuerscheinungen, aktuelle Kommentare, (Bild-)Dokumentationen, nach Möglichkeit auch Gespräche und Theoriedebatten.

Die Fachbeiträge dieses ersten Jahrbuchs führen in die ersten drei Jahrzehnte der Bundesrepublik Deutschland zurück, das heißt, in die "Ära Adenauer" und in die Phase des gesellschaftlichen und politischen Wandels.. Sie wollen sowohl übergreifende Zusammenhänge vermitteln als auch spezifische Forschungsfragen beleuchten. Die beiden Aufsätze von Burkhardt Riechers und Kirsten Plötz untersuchen aus jeweils unterschiedlicher Perspektive das Bild männlicher und weiblicher Homosexueller in dieser Zeit, und zwar zum einen das Selbstverständnis der "Homophilen" anhand der zeitgenössischen Zeitschriften, zum anderen das Fremdverständnis, mit dem "Lesbierinnen" in den Anfängen der BRD konfrontiert wurden. Stefan Micheler schließlich leistet mit seiner Analyse des Umgangs mit Homosexualität in der deutschen Studierendenbewegung einen Beitrag zur Entmythologisierung der Betrachtung "der 68er". Dass alle drei Beiträge von Noch-Nicht-Promovierten verfasst wurden, liegt primär in den Defiziten der aktuellen Forschung begründet, die diese Themen bislang noch nicht entdeckt und in den akademischen Kanon aufgenommen hat. Dass schließlich im gesamten Jahrbuch ein quantitatives Übergewicht männlicher Namen vorherrscht, ist in erster Linie der Mitgliederstruktur des herausgebenden Fachverbandes geschuldet. Wir wünschen uns eine stärkere Beteiligung von Frauen – auch unter den Herausgebenden – und bedauern, dass im deutschsprachigen Raum Organisationen, in denen homosexuelle Männer und Frauen gleichermaßen vertreten sind, noch immer die Ausnahme sind.

"Invertito" versteht sich als programmatischer Titel. Das lateinische Substantiv inversio und die lateinische Verbform inverto wurden von vielen europäischen Sprachen als Lehnwörter übernommen und erfuhren dadurch auch eine Bedeutungserweiterung. Schon im Lateinischen haben sie eine Vielzahl von Bedeutungen: inversio meint Umstellung, Ironie, Allegorie; invertere kann mit umwenden, umdrehen, umkehren, aufwühlen, umpflügen, umstülpen, verdrehen, verändern, umgestalten, etwas mit anderen Worten ausdrücken, etwas auf den Kopf stellen übersetzt werden. Auch das Deutsche kennt invers, Inversion, invertieren als Lehnwörter. Die Zeitschrift Invertito will die herkömmliche Sicht auf Geschichte verändern, gängige Forschungsmeinungen auf den Kopf stellen, das Bestehende spiegeln, aber auch umdrehen – kurz, sie will sich dem vorherrschenden heteronormativen Blick entziehen und entgegenstellen.

Bekanntlich existiert allein in der deutschen Sprache eine Vielzahl von Begriffen, mit denen gleichgeschlechtlich Handelnde und Liebende im Laufe der Zeit bezeichnet wurden oder sich selbst bezeichneten: "Sodomiter" und "Tribaden", "Urninge" und "Urninden", "Verzauberte", "Freundschaftsmänner" und "Freundschaftsfrauen", "Freunde" und "Freundinnen", "Männerhelden" sowie "Angehörige des Dritten Geschlechts". All das unter "homosexuell" zu fassen, ist ein nachträgliches Konstrukt. Unter anderem finden sich auch die Termini Invertierte, invertiert, invertierte Sexualität, die Sigmund Freud (1905) und Hans Blüher (1912) von Jean Martin Charcot und V. Magnan (1882) übernahmen und die auch von zahlreichen anderen AutorInnen verwendet wurden. Auch romanische Sprachen kennen das Wort als Synonym für "homosexuell" (spanisch: invertido, inversión sexual, italienisch: inverto, invertito/a). Die beste Übersetzung wäre wohl: andersrum. Der Titel Invertito zeigt, dass den Menschen, die in den Untersuchungen vorgestellt werden, nicht Identitätskonstrukte übergestülpt werden sollen, indem sie eben nicht bloß als "Homosexuelle" wahrgenommen werden, sondern verweist auf die Vielfalt an Begriffen, Identitäten, Selbst- und Fremddefinitionen in Zeit und Raum.

Der Plural "Homosexualitäten" soll zweierlei besagen: Zum einen drückt er aus, dass die Vorstellung einer diachronen, einheitlichen Geschichte, in der Sexualität als ein zu allen Zeiten gleiches Phänomen betrachtet wurden, durch historische Darstellungen, durch "Geschichten" über die vielfältigen Erscheinungsformen und Konzeptualisierungen gleichgeschlechtlichen Lebens und Liebens abgelöst werden muss. Zum anderen soll er darauf hinweisen, dass weibliche "Homosexualität" nicht mit männlicher gleichgesetzt, nicht aus derselben hergeleitet und nicht auf dieselbe bezogen werden darf, sondern sich in eigenständigen Konzepten und Konkretionen verwirklicht.

Forschungen zur gleichgeschlechtlichen Liebe, Erotik und Sexualität ordnen sich in das weite Feld der Sexualitäten- und Geschlechterforschung ein, das sich seit den 70er Jahren aus mehreren Wurzeln heraus gebildet hat. Hier wären insbesondere zu nennen: die Aneignung der Vergangenheit durch die homosexuelle Emanzipationsbewegung, die sich besonders auf den Aspekt der Verfolgung gleichgeschlechtlich Handelnder und die Geschichte der "Homosexuellen" seit dem 19. Jahrhundert konzentrierte; die Entstehung einer feministisch geprägten historischen Frauenforschung, in der die Untersuchung von Frauenbeziehungen einen festen Platz einnimmt und die sich inzwischen zur Geschlechtergeschichte erweitert hat, und die sozialhistorische Erforschung von Sexualität, Familie und "privatem Leben", entstanden aus den mentalitätsgeschichtlichen Konzepten der Annales-Schule und der Alltagsgeschichtsschreibung.

Vielfach konnten ältere – meist am Rande des geschichtswissenschaftlichen Mainstreams angesiedelte – Forschungsrichtungen Rohmaterial liefern, um es neuen Fragestellungen zu unterziehen, so etwa die "Sittengeschichten" oder medizinische "Fallsammlungen". Ebenso wurde die traditionelle "Kriminalgeschichte" mit ihrem Blick von oben abgelöst durch eine sozial- und alltagsgeschichtliche Erforschung der "Kriminalität" von unten; in diesem Zusammenhang hatte auch Sexualdelinquenz ihren festen Platz.

In den 80er Jahren wurde die gesamte Historiographie zu Geschlechtern und Sexualitäten von einem grundlegenden Paradigmenwechsel erfasst. Die Anwendung dekonstruktivistischer Methoden, vor allem die Rezeption Michel Foucaults, führten zu einer Historisierung scheinbar objektiver Begriffe (wie "Sexualität", "Liebe" usw.), zu einer Entnaturalisierung des Sexuellen und des Körperlichen überhaupt, und zu einer Infragestellung universaler Theorien der Gesamtgeschichte. Die sich anschließende (noch nicht abgeschlossene) Essentialismus-Konstruktivismus-Debatte schärfte den Blick für die Notwendigkeit, Begriffe wie beispielsweise (Homo-) "Sexualität", "Geschlecht" oder auch "Kriminalität" immer aufs neue in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext zu definieren und hinterfragen. Seit etwa zehn Jahren wird die Historisierung des Sexuellen durch die Verbindung von Dekonstruktivismus und feministischen Theorien insbesondere von Judith Butler vorangetrieben, die die Differenzierung zwischen "sex" als biologischer und "gender" als soziologischer Kategorie aufhob und jede "prädiskursive" Vorstellung eines Frauenbildes (und Männerbildes) zurückwies. In der "Queer-Theory" schließlich wird eine neue Verbindung zwischen Wissenschaft und politisch-emanzipatorischer Praxis angestrebt.

In Invertito soll eine breite Palette von Ansätzen zur Erforschung gleichgeschlechtlicher Verhältnisse vertreten sein. Die Zeitschrift soll den jeweiligen Diskussionsstand widerspiegeln, unterschiedliche Positionen zu Wort kommen lassen und nach Möglichkeit dazu beitragen, die Theoriedebatte zu fördern und weiterzuentwickeln.

Die Erforschung der Geschichte der Homosexualitäten geht somit über die bloße Betrachtung von gesellschaftlichen Minderheiten hinaus; sie betrifft Geschlechter- und Sozialverhältnisse insgesamt. Sie lässt Lebenswirklichkeiten und -konzepte außerhalb und neben der heute herrschenden bürgerlich-heterosexuellen Familien-Norm sichtbar werden. Die Dechiffrierung von gesellschaftlichen Bildern, Begriffen und Normen als Konstruktionen hilft, Machtmechanismen zu hinterfragen und die grundsätzliche Wandelbarkeit der heutigen Verhältnisse aufzuzeigen.

Gerade im deutschsprachigen Forschungsbereich besteht ein großer Nachholbedarf an Arbeiten auf diesem Gebiet. Hierzulande hält sich besonders hartnäckig die Auffassung, Sexualitäten und Geschlechter seien ahistorische Konstanten und zudem etwas "Privates". Bislang liegt der Schwerpunkt des Interesses auf der frühen Emanzipationsbewegung, auf der NS-Zeit, und seit etwa zehn Jahren gibt es verstärkte (wenngleich noch immer vereinzelte) Aktivitäten auf dem Gebiet des Mittelalters. Hingegen ist die "Frühe Neuzeit", das heißt die Epoche des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, im deutschen Sprachraum noch fast unerforscht, während sie in vielen anderen westeuropäischen Ländern und in den USA außerordentlich intensiv bearbeitet wurde. Auch die oben genannten Theoriedebatten sind in Deutschland bislang erst ansatzweise rezipiert worden. Somit besteht sowohl in theoretischer Hinsicht als auch in Bezug auf einzelne Gegenstände ein elementares Forschungsinteresse an allen historischen Phänomenen gleichgeschlechtlichen Verhaltens.

Möge Invertito die Vernetzung und Etablierung historischer Homosexualitäten-Forschung fördern und dabei nicht einfach eine exotisch-bunte Enklave innerhalb der herrschenden Wissenschaft einrichten, sondern den Blick auf Geschichte und Gegenwart insgesamt emanzipatorisch verändern helfen.

Redaktion und Co-Herausgeber bitten in diesem Sinne alle LeserInnen, die neue Zeitschrift mit konstruktiver Kritik zu begleiten und sich persönlich ermuntert zu fühlen, sich mit eigenen Arbeiten an den folgenden Heften zu beteiligen.

Redaktion & Co-Herausgeber




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